Ein Kammerspiel der Leidenschaften
Grossartiger «Othello» im Stadttheater Basel
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Schaffhauser Nachrichten
115. Jahrgang
Dienstag, 9. November 1976


Der Mohr erdrosselt sich, die Geschäfte der venezianischen Herren gehen weiter. Kaltblütig, herzlos. Der Schurke schaut den Herren zu und klatscht, zusammen mit den Zuschauern. Die Tragödie ist aus, die Tragödie besinnt. Das ist der Schluss der Skandal um witterten Othello-Inszenierung im Basler Stadttheater.

Ich bin nach Basel mit gemischten Gefühlen gefahren. Die skandalöse Ermordung Desdemonas, die in allen Zeitungen detailliert beschrieben wurde, liess auf einen «Schocker» schliessen, der nur wenig mit Shakespeare gemein hatte, der aber den Regisseur Hans Hollmann nach der eher glanzlosen Saison des vergangenen Jahres dafür um so mehr ins Rampenlicht stellen sollte. Doch die Ermordung, wie brutal sie auch sein mag, macht Othello nicht aus. Sie dauert zehn Minuten, das Stück vier Stunden. Ist also der lange Rest nur eine Knochenbeilage zu Hollmanns Theater der Grausamkeit?

Schon das erste Bild verneint die Frage. Der Schauplatz Venedig liegt von den Zuschauern weit entfernt, die Schauspieler erscheinen nur als Silhouetten, ihre Stimmen müssen durch einen Lautsprecher verstärkt werden. Vom ersten Wort an also gewinnt der Zuschauer eine räumliche, akustische und optische Distanz zu den Politikern; ihre Staatsgeschäfte, aus dieser Distanz betrachtet, wirken kühl, entfremdet unmenschlich. Das ist ein grandioser Einfall, der aus dem geschichtlichen Kolorit im Hintergrund der «eigentlichen» Tragödie, das sonst nur ein Ballast für die Handlung ist, einen wesentlichen, politischen Bestandteil der Aufführung macht, Aufschluss über die Hintergründe der Tragödie gibt und zugleich dramatische Kontrapunkte setzt. Die Welt ist gleichgültig, marionettenhaft, mechanisch, das zeigen die hochstilisierten Bewegungen und der künstliche Sprachductus der Schauspieler überaus deutlich. Die Politik geht reibungslos vor sich, wie eine gutgeölte Maschine. Weit hinten, kaum hörbar, kaum sichtbar. Die fremde Welt, die «in Ordnung ist».

Ganz vorn im Zuschauerraum: das Gefühlschaos. Auf einem weissen Podest, das stark an einen Boxring erinnert, entfalten sich die Emotionen unmittelbar vor den Zuschauern. Nicht selten wenden sieb die agierenden Personen direkt ans Publikum und machen es damit am Geschehen mitbeteiligt. Diese Spielweise steht im bewussten Gegensatz zu der distanzierten Darstellung der kalten Welt der Politiker: um so direkter und ergreifender wirkt sie dann. Da schaut man nicht nur anstandshalber zu, weil's halt ein Klassiker ist, da geht man mit, hasst, liebt und leidet mit, ist mitgerissen; es greift ans Herz, was da passiert. Diese Welt ist (w)irr, leidenschaftlich, unkontrolliert und unkontrollierbar. Wie ein Orkan.

Durch die beiden Welten wird der Zuschauer in der Basler Inszenierung von der Person des Jago geführt. Denn Jago gehört beiden Welten an. Er besitzt einerseits die eisige Vernunft die er als Mittel zum Intrigieren einsetzt, anderseits den furchtbaren leidenschaftlichen Hass gegen den Mohren. Der Hass ist auch die eigentliche Motivation für Jagos Tun. Dass Jago eine berufliche Karriere machen will, ist nur eine rationale Gerechtfertigung, nicht der richtige Grund. Dadurch gewinnt die Gestalt des Jago eine weitere Dimension: Jago handelt nicht aus Eigennutz, sondern aus einer nicht weiter erklärbaren, irrationalen Abneigung gegen die Tugenden der anderen. Die grossherzige Liebe des Mohren, die Treue und die Unschuld Desdemonas, das zerfrisst Jagos Herz, quält ihn, macht ihn hysterisch. Er muss dann so handeln, wie er handelt, auch wenn er nicht wollte. Aber, und das macht ihn erst zum Schurken, er will. In Basel spielt die Rolle Jochen Tovote. Er spielt sie deutlich, nuanciert, geistreich. Er hält sich genau an die Anweisungen des Regisseurs, der ihn als das Gegenpol zu Othello sehen wollte: ist der Mohr grosszügig, sinnlich, tapfer, liebend, naiv, so ist Jago kleinkariert, impotent, feige, lieblos, schlau. Tovotes Jago ist ein Zwischenwesen, erotische und menschliche Ausstrahlung gleich Null. Ein Unglück der Natur, ein Wurm, kein Mensch. Das weiss er und rächt sich. Dafür, dass er so grauenhaft zu kurz gekommen ist, schien mir Tovotes bis ins letzte Detail stimmige Darstellung doch zu brillant. Er führt ausgezeichnet vor, er hat Jago genau begriffen, erlebt aber nur einen Teil von dem, was er an Jagos Erleben zeigt.

Christoph Quest als Othello genau das Gegenteil. Ich habe bis jetzt kaum eine glaubwürdigere Identifikation eines Schauspielers mit der darzustellenden Person gesehen. Der Gang, die Gesten, die Stimme, die Mimik, das sind bei Quest keine Äusserlichkeiten, sondern aufschlussreiche Zeichen des bewegten Innenlebens des Mohren. Quest Othello lässt den Zuschauer nicht begreifen, er lässt ihn fühlen. Und stark fühlen. Wer dann noch fähig ist, bei der Ermordung Desdemonas demonstrativ den Saal zu verlassen, der demonstriert nur seine Gefühllosigkeit, seine innere Kälte. Denn die Ermordung, die grausame Folterszene, ist in dieser Inszenierung und in dieser Darstellung unvermeidlich. Die konventionelle Bühnenlösung, bei welcher Othello in zwei Sekunden seine Frau erdrosselt, wäre hier nicht nur eine Abschwächung, eine Verharmlosung des Geschehens, sondern -ganz einfach eine Lüge. Wie gut kann man es hier dem Mohren nachempfinden, wenn er Desdemona zuerst die Beine ausrenkt, sie schlägt, die Scham mit dem Hochzeitsnachtleintuch ausstopft, sie an starken Stricken festbindet! Erschreckend gut. Quest macht menschlich auch die unmenschlichsten Taten.

Und Desdemona! Susanne Tremper macht aus ihr kein ätherisches Wesen, keinen langweiligen Engel, sondern eine ganz reale Gestalt aus Fleisch und Blut. Ihre Unschuld ist menschlich und deshalb noch reiner, weil seltener. Sie ist einfach, bäuerlich fast. Wenn Tremper mit dieser klischeebelasteten Desdemona ganz unzimperlich verfährt, so ist es nur scheinbar grob oder grobschlächtig. Genau besehen ist es nämlich richtig, dass Desdemona als eine kräftige, selbstsichere Frau dargestellt wird (die andere, ausserirdische, die schon Jahrhunderte lang auf den Bühnen herumgeistert, wäre ja. nicht einmal fähig, sich in den Mohren zu verlieben). Auch Desdemona ist ein sinnlicher, starker Mensch. Um so grösser nimmt sich dann ihre grenzenlose, hingebungsvolle Liebe zu Othello aus, um so tiefer ist dann ihr Kniefall vor ihm. Es braucht nämlich schon wesentlich mehr Liebe dazu, wenn sich ein starker, bodenständiger Mensch aus Liebe zu einem anderen von diesem zu Tode foltern lässt und am Ende noch sich selbst die Schuld gibt, als wenn es ein schwächliches, weltfremdes Geschöpf tut.

Die drei Protagonisten sind in Hollmanns Inszenierung mit sehr viel Sorgfalt herausgearbeitet. Sie heben sich von den anderen Personen ab, zeigen ein Kammerspiel der Leidenschaften. Das ist richtig. Mit Ausnahme von Emilia, der Frau Jagos (Margret Homayer zeichnet sie mit ein paar scharfen, kräftigen Strichen plastisch und überzeugend) sind alle anderen Gestalten nur profillose Mitspieler. Das mag zuerst vielleicht (z. B. bei Cassio) etwas enttäuschen, doch entspricht dies völlig der Regiekonzeption. Die Maschinerie der Macht verlangt eben profillose Statisten. Sie sind auswechselbar, untereinander vertauschbar. Auch ihre Herzlosigkeit bildet ein Gegenpol zu Othellos Liebe. Jago hat recht, wenn er ihnen am Schluss applaudiert: die venezianischen Politiker sind Leute von seinem Schlag. Ihnen fehlt zwar Jagos Wille zum Bösen, Othellos Fähigkeit zu lieben besitzen sie aber auch nicht. Ihre Gefühlskälte und Jagos höhnischer Beifall waren für mich nicht weniger erschreckend als das Massaker kurz vorher.

Die Aufführung dauert vier Stunden. Man merkt es kaum. Der Zuschauer wird gefangengenommen nicht nur von dem spannungsreichen Wechsel der verschiedenen Spielebenen und der ausgezeichneten Interpretation, sondern zusätzlich noch von André Bauers Monumentalmusik, die die Bühnenwirkung noch verstärkt und überhöht, von Andreas Reinhardts tiefer, mit schwarzen Tüchern behängten Bühne. In der Mitte als Zentrum steht auch tatsächlich der zentrale Punkt der Handlung: das Bett.

Dass man dann auch dem gesprochenen Wort wirklich zuhört, ist das Verdienst der gewählten Übersetzung. Johann Joachim Eschenburgs Übertragung ist genau, die neue Fassung, besorgt vom Basler Theater selber, befreit sie von allen heute lächerlich anmutenden Altertümlichkeiten. Die Reise nach Basel lohnt sich.

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