Die Fruchtbarkeit der vielbrÜstigen GÖttin Wahrheit
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Schaffhauser Nachrichten
117. Jahrgang, Nr. 292
Freitag, 15. Dezember 1978

Gedanken zu Harald Szeemanns Ausstellung «Monte Verità» im Kunsthans Zürich

Das ist mir schon lange nicht mehr passiert: Zwei Wochen lang habe ich mich an die Besprechung der Ausstellung im Kunsthaus Zürich nicht gewagt. Dabei habe ich diesmal im Kunsthaus mehr Zeit verbracht als irgendwann sonst: Drei Nachmittage schaute ich mir die «Brüste der Wahrheit» an; so heisst die Ausstellung über den Berg der Wahrheit, Monte Verità, im Untertitel.

Harald Szeemann hat für Ascona, Zürich, Berlin und Wien die Ausstellung über Monte Verità konzipiert, zusammengestellt und installiert. Die ungeheure Materialfülle wird von der ungeheuren Auswertungsarbeit vielleicht noch übertroffen. Die Ausstellung des verarbeiteten Stoffes wird, abgesehen von dem, was ausgestellt wird, zur Ausstellung über das Ausstellen. Die Ausstellung potenziert sich, indem sie sich zitiert, sich ausstellt. Sie hat sich nie zum Thema, aber sie verweist ständig auf sich als auf ein neben ihren Themen parallel laufendes Thema. Sie visualisiert den Mythos des Ausstellern, wie sie mit dem Ausstellen die Mythen auf dem Berg der Wahrheit visualisiert. Wie kann ich mit dem Schreiben der neuen Dimension Rechnung tragen? Und soll ich? Die Angst vor Unverständlichkeit.

Vor zwei Jahren ist Harald Szeemanns Ausstellung «Junggesellenmaschinen» beim breiten Publikum auf Unverständnis gestossen, und in diesem Sommer, als Harald Szeemann die Ausstellung über Monte Verità, auf fünf verschiedene Ausstellungsorte im Tessin in der Nähe von Ascona verteilt, zum ersten Mal der Oeffentlichkeit präsentierte, wurden die mangelnde Uebersicht und die Unverständlichkeit der Ausstellung kritisiert. Man fand keinen Zusammenhang und keinen Sinn. Und auch die der Ausstellung vorangestellte Zielerklärung machte Schwierigkeiten: Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie.

Als ich die Ausstellung einen Tag vor ihrer Eröffnung im Kunsthaus Zürich zum ersten Mal besichtigte, war Harald Szeemann gerade dabei, unter den Exponaten kleine Beschriftungszettel festzunageln. Schrifttafeln sollten dem Ausstellungsbesucher mitteilen, was er anschaut. Denn was man benennen kann, das glaubt man zu verstehen. Harald Szeemann wollte sich dem Vorwurf der Unverständlichkeit nicht mehr ausetzen.

Ich habe gesehen, was die Beschriftung anrichtet. Ein beschriftetes Bild ist ein erledigtes Bild, und ein beschrifteter Gegenstand ist für mich gestorben. Gedanken stellen ab, und der Blick gleitet an der Oberfläche vorbei zu anderen Oberflächen. Der Name ist ein fester Ueberzug, und wer gibt sich schon die Mühe, durch ihn sich an das Ding heranzutasten? Je besser der Name sitzt, um so schwieriger wird das Unternehmen, um so besser ist das Ding versteckt. Ich lobe mir die ungenauen Namen, Namen wie lose Kleider, die dem Körper seine Freiheit lassen, die nur wenig oder gar nicht zu ihm gehören. Namen, die das Ding in Ruhe lassen. Namen, die das Ding freigeben. Bei den Bildern und Gegenständen, die noch nicht beschriftet waren, hielt ich mich am längsten auf, bekam am meisten Einsicht und den stärksten Eindruck.

Es geht nicht darum, sich über den Berg der Wahrheit, informieren zu lassen, sondern die Wahrheit des Berges zu erfassen. Die Wahrheit ist vielbrüstig wie die Göttin von Ephesos, bei welcher die Vielbrüstigkeit als Zeichen der Fruchtbarkeit gedeutet wird. Und so ist auch die vielbrüstige Wahrheit fruchtbar, lebensspendend. Von den Gründern der Vegetarischen Kolonie auf Monte Verità um 1900 wurde sie als bewusst gelebtes Leben postuliert, und mir schien in der Ausstellung, als wäre jede Brust ein anderes Bewusstsein des Lebens, immer gleich fruchtbar, immer gleich wahr.

Ein anderes Bewusstsein vom Leben hatte Michail Bakunin, der von einer herrschaftslosen Gesellschaft träumte und bei dem das Träumen wacher war als bei den meisten seiner Zeitgenossen; ein anderes Bewusstsein hatte die russische Baronin Antonietta von Saint-Léger, die sich mit einem botanischen Garten auf ihren Brissago-Inseln ihr irdisches Paradies erbaute, ein anderes Bewusstsein hatten die Vegetarier, ein anderes Bewusstsein hatten die Tänzer, ein anderes Bewusstsein hatten die Maler, und ein anderes Bewusstsein hatten die Hoteliers. Es gibt eine Wahrheit des Klosters, und es gibt eine Wahrheit des Kommunismus, es gibt eine Wahrheit der Frauenbefreiung, und es gibt eine Wahrheit der Heimatlosen, es gibt eine Wahrheit des Oberkommandos, und es gibt eine Wahrheit des deutschen Wirtschaftswunders, es gibt eine Wahrheit der Einzelgänger und eine Wahrheit der Landkommune, eine Wahrheit des Freimaurers, eine Wahrheit des Kunstsammlers, eine Wahrheit des Anarchisten, eine Wahrheit des Sterbeorts, eine Wahrheit des Ritualtanzes und eine Wahrheit des Päderasten. Und es gibt auch eine Wahrheit des Harald Szeemann, der die Geschichte des Monte Verità als «Gesamtkunstwerk» nach dem Strukturmodell der vielbrüstigen Göttin Wahrheit ausstellte.

Ein langer, schmaler Gang führt vom Eingang zu den Tempelbauten, zu den Tempelmodellen nach den Tempelvorstellungen im Locarnese zwischen 1906 und 1939. Die Aufarbeitung eines Glaubens und einer Philosophie. Von da an geht es zurück in die Gegenwart, die mit dem irren Armand Schulthess endet. Zwischen dem Weg hin zum Tempel und dem Weg zurück steht eine Wand. Eine Trennwand. Der Weg hin ist durch Anarchie und religiöse Vorstellungen geprägt, der Weg zurück durch Kunst.

Einzelheiten: Seit 1964 ist der Monte Verità im Besitz des Kantons Tessin. Der frühere Besitzer, Baron Eduard von der Heydt, Bankier des Kaisers Wilhelm II., hat ihn dem Kanton nur unter der Bedingung vermacht, den Monte Verità zum Ort bedeutsamer kultureller Anlässe werden zu lassen. Der erste bedeutsame kulturelle Anlass auf Monte Verità war Harald Szeemanns Ausstellung im Sommer 1978.

Monte Verità als Ort des freien, natürlichen, schöpferischen Lebens. Das war einmal. Und heute? Nach 1950 hat die Ausstellung einzig einen Verrückten, den Armand Schulthess, als Lebensalternative aufzuweisen. Der expressionistische Schweizer Maler Ignaz Epper verbrannte sich am 12. Januar 1969 im Garten seines Hauses in Ascona.

In Museen, und Kunsthäusern erwartet man Bilder, Kunstbilder, und die Ausstellung Monte Verità enttäuscht die Erwartenden nicht. Innerhalb der Ausstellung gibt es eine Ausstellung für den Kunstfreund. Zwei Künstlerinvasionen: 1918 und um 1930. 1918 waren es Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky und die Dadaisten Hugo Ball, Hans Arp und Hans Richter. Die Bilder von Marianne von Werefkin bleiben nicht auf die Ausstellung in der Ausstellung beschränkt, sondern greifen auch in andere Ausstellungsteile hinein. Sie greifen vor und sie greifen nach, thematisch und zeitlich ungebunden. Vielleicht wird sich das Interesse für diese sonderbare und besondere Künstlerin jetzt endlich regen. Ignaz Epper, Fritz Pauli und Robert Schüren lassen sich um 1930 in Ascona und Umgebung nieder. Es ist erfreulich, was für Werke Harald Szeemann für seine Ausstellung hat gewinnen können. Die bildende Kunst ist aber nicht die Hauptsache.

Wie soll man leben? Die Ausstellung bringt Antworten, die sich widersprechen,und die Antworten von damals sind heute für uns Vorschläge. Und wie exotisch, wirklichkeitsfremd diese Vorschläge heute für uns auch sein mögen, das Aufzeigen der Vorschläge, anders zu leben, ist ein wirklichkeitsnaher Vorschlag. Es wird vorgeschlagen, dass wir uns mit anderen Lebensformen befassen, sie zur Kenntnis nehmen. Es sind die anderen Brüste der vielbrüstigen Göttin. In diesem Sinn wird die Ausstellung, die Harald Szeemann zu Recht eine alternative Ausstellung nennt, dem Ausgestellten gerecht. Sie ist, was sie ausstellt. (Bis 28. Januar 1979 im Kunsthaus Zürich.)

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Foto: Dušan Šimánek
 
 
 
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