Der Film ist nach wie vor das Stiefkind des Kulturbetriebs
Zeitungsartikel
Bildanalyse einer Schicht
Der Film ist nach wie vor das Stiefkimd des Kulturbetriebs
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Peter Meiers Erstling "Stationen"
  Schaffhauser Nachrichten
117. Jahrgang, Nr. 67
Dienstag, 21. März 1978
Kulturspiegel


Der heutige «Kulturspiegel» berichtet von Aussenseitern. Von Stiefkindern der Kunst, «Schliesslich Ist der Film, wenn auch nicht in seiner breiten Quantität, so doch In einzelnen Schöpfungen, ebenfalls als kulturelles Geschehen und künstlerisches Ereignis zu werten.» Jawohl. Mit diesen Worten teilte Anfang Februar eine angesehene Berner Zeitung ihren Lesern mit, dass der Film — zumindest In einzelnen seiner Schöpfungen — der Kunst angehöre und die Filmkritik inskünftig nicht mehr Im Lokalteil, sondern Im Kulturteil erscheinen werde.

Hat es mit der wachsenden Anerkennung der Massenmedien der Film in der Schweiz geschafft? Noch lange nicht Er, und mit ihm seine ältere Schwester, die Photographie, sind im heutigen Kulturbetrieb immer noch mehr geduldet als geachtet, sind, obwohl schon über 80 bzw. über 100 Jahre alt, immer noch Kinder unter den Künsten geblieben und werden demnach auch behandelt: sie werden nicht für voll genommen.

In den Archiven der Monuments «Historiques» in Paris kam kürzlich eine vergessene Sammlung von Aufnahmen des «Vieux Paris» von Eugène Atget zum Vorschein. Nach der Ausstellung in Paris sind nun die alten Photos vom alten Paris zum ersten Mal im Ausland, in der Photo-Galerie im Kunsthaus Zürich zu sehen. Dass die Sammlung lange Jahre vergessen in den Archiven lag, dass ihr Schöpfer, der ehemalige Schauspieler Atget, der erst mit vierzig den Beruf des Photographen wählte, selber in Vergessenheit und Armut (Atgets Bekannte sagen: aus Armut) starb, scheint mir für die Stellung der Photokunst innerhalb der bildenden Kunst bezeichnend, um so mehr als es sich bei Atget um einen Meister seines Metiers handelt.

An seiner Wohnungstür hatte Atget ein Schild mit dem Text «Documents pour Artistes» angebracht. Atget hielt sich, dem Schild nach zu urteilen, wohl selber für keinen «richtigen» Künstler, sondern bloss für eitlen «Künstlerhelfer». Er photographierte mit wahrem Entdeckungseifer Boulevards, Fassaden, Tore, Höfe, Strassenwinkel und Gärten vom Paris der Jahrhundertwende, entwickelte die Aufnahmen und bot die Bilder als «Thema» oder als «Vorlage» den «wirklichen» Künstlern an: den Malern. Zu seinen Kunden sollen, so wird erzählt, Braque, Duchamp, Vlaminck, Utrillo, Dali und Picasso zählen. Schaut man sich die in Zürich ausgestellten Bilder an (aus den 4600 vorhandenen Platten wurde für die Ausstellung nur eine kleine Auswahl getroffen), erscheint die hochberühmte Kundschaft der -bescheidenen Agentur plausibel. «Atget», schreibt Walter Benjamin 1931, «war ein Schauspieler, der, angewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daran ging, auch die Wirklichkeit abzuschminken. Er suchte das Verschollene und Verschlagene, und so wenden auch solche Bilder sich gegen den exotischen, prunkenden, romantischen Klang der Stadtnamen.» Und wirklich: die schmucklosen Fassaden der schäbigen Pariser Häuser, der mit Gras bewachsene Treppenweg in einem Pariser Vorort, die Fenster, in welchen sich das Strassenleben spiegelt — die Bilder Atgets erinnern in ihren Sujets und durch ihre Sujets in ihrer intensiven Poesie des Gewöhnlichen an die schönsten Bilder von Utrillo, in ihrer Vielschichtigkeit und ihrem kontrastreichen Licht-Schattenspiel an die surrealen Bilder von Dali. Utrillo und Dali kennen wir, Atget ist noch nachzuholen (bis 23. April).

Ebenfalls nachzuholen, diesmal vorbeugend, damit er nicht in Vergessenheit und aus Armut sterben muss: der neue Schweizer Film. Eine Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich und die Filmaktivitäten, die zur Zeit in Zürich stattfinden, ziehen Bilanz aus der bisherigen Entwicklung.

«Forschungsreise ins Paradies» heisst die Ausstellung im Kunstgewerbemuseum. Informierend wird, dem Titel hinzugefügt: «Entwicklungslinien im neuen Schweizer Film 1954 bis 1977», womit der Titel auf den Kopf gestellt wird. Denn Entwicklungslinien im neuen Schweizer Film zu verfolgen, heisst etwa soviel, wie den Sündenfall und die folgende Vertreibung aus dem Paradies zu dokumentieren. Um die Sprachbilder zu erklären: das «Paradies» ist nichts anderes als die heile Schweiz. Die Schweiz der grünen Wiesen, des glücklichen, weil arbeitsamen Volkes, die Schweiz der Freiheit und des Friedens, der Ehrlichkeit, der gesunden Bodenständigkeit usw. Die Heimatfilme haben das Bild der heilen Schweiz aufgegriffen, benützt, erweitert, ausgemalt, idealisiert, klischiert. Der Film wurde Lüge.

In den späteren fünfziger Jahren (zuerst vorsichtig im Ausland), dann in den sechziger und siebziger Jahren auch in der Schweiz entwickelte sich sozusagen aus dem Nichts der neue Schweizer Film, der, fern von allem Heimatkitsch, deutliche Risse in das Paradiesbild von der Schweiz brachte. Mit geduldigem Betrachten des schweizerischen Alltagslebens (ich denke da vor allem an die Filme aus der Westschweiz), mit Reflexionen über den Alltag und mit unüberhörbaren Verbesserungsvorschlägen korrigiert nun der neue Schweizer Film das Paradiesbild und zeigt auf, dass das Bild bloss eine optische Täuschung war. Er zeigt es auf verschiedene Weisen: als Spielfilm, als Dokumentarfilm, als' Trickfilm. Der Nenner aber ist derselbe: die Skepsis gegenüber der heutigen Erscheinungsform der Schweiz.

Die Ausstellung im Kunstgewerbemuseum ist wärmstens zu empfehlen: sie hält einzelne Entwicklungsstationen und die heutigen Positionen des neuen, nicht mehr bejahenden, sondern in Frage stellenden Schweizer Filmes fest und vermittelt darüber hinaus leider ziemlich bedrückende Informationen über dessen ökonomische und kulturpolitische Situation. Oekonomisch: die Stadt Zürich unterstützte im Jahr 1975 das Filmschaffen mit 75000 Fr., für Theater gab sie 29 257 700 Fr. aus. Im selben Jahr betrug, gesamtschweizerisch betrachtet, die Filmförderung des Staates 0,192 Fr. pro Einwohner (in Italien 2,079 Fr., in Frankreich 1,075 Fr.).

Kulturpolitisch: trotz der wachsenden Anerkennung der Kulturbeflissenen ist der neue Schweizer Film noch nicht ins Bewusstsein des Schweizer Volkes vorgedrungen. Für die Verleihe und die Kinos ist er immer noch eine Art Aussenseiterproduktion, der Hauch des Exklusiven haftet ihm an: der «normale» Kinobesucher hat Angst vor ihm. Was ist zu tun? Die Angst schleunigst loszuwerden. Wie? Indem man sich die Schweizer Filme anschaut. Wo? Das Kunstgewerbemuseum führt bis 23.4. eine Reihe von neuen Schweizer Filmen vor, die als Ergänzung zur Ausstellung sich bestens eignen. (bis 23. April).

Das Kino «City» in der Zürcher Altstadt präsentiert zurzeit ebenfalls vier Schweizer Filme. Es sind Dokumentarfilme: zwei Porträts von Kunstschaffenden, die sich dem Volk verpflichtet fühlen, ein Schulreport über den politischen Druck auf Lehrer, eine Dokumentation über eine psychiatrische Klinik und ihre Insassen, ein Bericht über den Fitnesswahn unserer Stressgesellschaft. Aufmerksamkeit verdient zweifellos auch der neue Spielfilm des extravaganten Schweizer Filmemachers Daniel Schmid: im Kino «Movie 2» ist seine «Violanta» angelaufen, eine leidenschaftliche Geschichte in prächtigen Farben nach der Erzählung «Die Richterin» von C. F. Meyer. Den Anfängern in Sachen neuer Schweizer Film rate ich hier allerdings ab: «Violanta» ist wirklich nur für eingefleischte Aestheten bestimmt. Für «Normale» ist die Schwulst kaum zu ertragen.

Was ich dagegen allen Frauen empfehle: Im Rahmen der Thearena in der Roten Fabrik treffen sich Frauen jeden Alters, die gemeinsam einen Film machen und darin ihre Wünsche, Anliegen und Probleme zur Sprache bringen wollen, am 21., 22. und 23. März. Es wird gefilmt und diskutiert werden. Ich kann mir vorstellen, dass für die Zürcher Stadtfrauen eine Partnerin aus dem «ländlichen» Kanton Schaffhausen eine willkommene Bereicherung wäre. Hier wird der Sinn des ungeliebten neuen Schweizer Filmes und auch der Sinn des heutigen «Kulturspiegels» am besten sichtbar: der Film ist für uns in dem Mass da, wie auch wir für den Film da sind. Die Zukunft des Schweizer Films hängt von uns ab. Und er ist ein Teil unserer Zukunft.

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