TRAISKIRCHEN
Schauspiel in einem Akt
Theaterstücke
Frühe Stücke:
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Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1988
Copyright Daniel Corti
Personen 4D / 6H
Ort der Handlung Flüchtlingslager Traiskirchen, Österreich
Zeit der Handlung  

Ausgezeichnet mit dem Gerhard-Hauptmann-Preis für das Drama der Freien Volksbühne e.V. Berlin

Personen:

Herr Krautgartner
Frau Kraus
Frau Waldauf
Anton Hubitschka
Poltawetz
Professor Holzknecht
Mila
Grossvater
Jarmilka
Abraham

 

Über das Stück

Traiskirchen ist ein Ort mit einem Flüchtlingslager südlich von Wien. In diesem Stück vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit einer tschechischen Emigrantenfamilie mit der von Verwaltungsangestellten und Einheimischen. Vergangenheiten treffen aufeinender, die noch nicht zur Gegenwart gefunden haben. Das Stück, dessen Handlung in der Nacht des 24. Juni von der Dämmerung bis zum Morgen grauen spielt, ist eine Art von „Sommernachtstraum“, in dem der Tod seinen Auftritt hat und sich merkwürdige Dinge abspielen. Wir erleben eine Lagersituation, die vor und nach 1945 gespielt haben könnte – das ist letztlich das Bestürzende und das Unheimliche.
(Klaus Völker im Programmheft der Uraufführung)

Das Stück heisst "Traiskirchen". Traiskirchen ist eine Ortschaft fünfundzwanzig Kilometer südlich von Wien gelegen,bekannt vor allem durch das Flüchtlingslager, in welchen die Flüchtlinge (vorwiegend aus dem Osten) auf die Erledigung ihrer Ausreiseanträge und Visa für das Zielland (Kanada,Australien u. a. ) warten. Viele von ihnen bleiben dann schliesslich doch in Oesterreich "hängen". Es wäre sicher sehr menschlich und theatralisch dankbar, die reale Situation im Lager und die Schicksale der Flüchtlinge zu schildern, doch ich möchte eine andere Gesichte erzählen: die Geschichte des ermordeten Abraham, der nach hundert Jahren auf die Erde zurückkommt und seine Braut Miriam sucht.

Ich möchte aber auch die Geschichte des Herrn Krautgartner erzählen, der diesen hundertjährigen Toten für "seinen" Toten aus dem Krieg hält. Es geht mir dabei um die Begegnung der Legende mit der Geschichte. So viel zum "geistigen Hintergrund" des Stücks.

Im Vordergrund: eine vierköpfige Emigrantenfamilie (Vater, Mutter, Tochter und der Vater der Mutter), welche die Begegnung verursacht und austrägt. Inhalt: Zum ersten und zweiten Bild, die ich Ihnen schon ausgearbeitet mitschicke (da es keine Einzelszenen gibt, s. Bemerkung), nur so viel: durch Verhindern, Vergessen und Verdrängen (der Grossvater vergisst die Worte des Gebets, Frau Waldauf verbietet Professor Holzknecht das Erwähnen einer geschichtlichen Episode, der Film verbrennt im Projektor, Herr Krautgartner schiesst auf den Zeugen seiner Vergangenheit) bricht das Ausgeschlossene mit umso grösserer Heftigkeit aus dem Nicht-Sein aus und dringt ins reale Leben ein. Dieses Eindringen soll im dritten Bild gezeigt werden, bei Völkerfest, in einer Vollmondnacht: der tote Abraham mischt sich unter die Festenden. In Jarmilka glaubt er seine Braut Miriam zu erkennen, und Jarmilka fängt an, sich als Miriam zu fühlen. Oder ist der Geist von Miriam durch Abrahams Liebesbeschwörung in Jarmilka gefahren? Ich weiss es nicht.

Dem Filmvorführer Anton Hubitschka wird Jarmilka immer fremder. Die Folgen: der Grossvater findet in der gelebten Legende seinen alten Glauben wieder, Herr Krautgartner dagegen sieht sich von Feinden und Rachegeistern umgeben. Abraham ist ein Anhänger des Ketzers Sabatai Zwi, für welchen die Welt und das Leben eine Illusion ist, die nur durch den Tod zerstört werden kann. Abraham verherrlicht den Tod, um Jarmilka für das Jenseits zu gewinnen, aber es ist Frau Waldauf, die dadurch die Angst vor dem Tod verliert.

Im vierten Bild, schon im Morgengrauen, spielt sich der "Heilprozess" ab: Herr Krautgartner erschiesst aus Versehen (?) Poltawetz, zugleich kehrt Abraham zu den Toten zurück, um dort seine ewige Ruhe zu finden. Dies wurde ihm auf folgende Weise ermöglicht: unter Anleitung des Geschichtsprofessors Holzknecht spielen Jarmilka, Anton und der Grossvater jene Episode aus Abrahams Leben nach, welche Frau Waldauf dem Professor zu erwähnen verboten hat. Beim Nachspielen verändern sie aber die Geschichte, so dass Abraham statt durch einen Axthieb friedlich in seinem Bett sterben kann und nicht als Ermordeter zur ewigen Unrast verurteilt wird. Mit den ersten Sonnenstrahlen löst er sich auf, und Frau Kraus kommt mit dem Besen, die abgeschnittenen Ohren zu kehren.

Das fünfte Bild spielt am Nachmittag, gleich wie das erste Bild - der Kreis schliesst sich, doch statt um die Ankunft geht es jetzt um den Abschied: um den Abschied vom Erschossenem und um den Abschied von der Emigrantenfamilie, die nicht weiss, wohin.

Eine Bemerkung zum Stil: Bei "Traiskirchen" handelt es sich um ein Auflösungsstück. Das Gespenst löst sich auf, die Identitäten der Personen lösen sich auf, die Regeln und die Grenzen lösen sich auf. Die inhaltliche Auflösung muss von der Form mitgetragen werden. Aus diesem Grund verzichte ich auf feste Konturen, alles verwischt sich und geht ineinander über. In der bildenden Kunst findet sich eine Entsprechung in Aquarell oder in lavierter Tusche. Deshalb keine "Szenen".
(Exposé von Michael Zochow)

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Traiskirchen

Im Hintergrund drei Häuser: das Verwaltungsgebäude, das Männerhaus und das Frauenhaus. Im Vordergrund die “Gemütliche Ecke".

Der Großvater und Jarmilka spazieren am Zaun entlang.

Großvater Schön bist du, Jarmilka, brauchst nicht zu studieren. Heiraten solltest du, einen Millionär. Eva Klinger hat einen Bierbrauereibesitzer geheiratet. Die hat es gut gemacht.
Jarmilka Aber Großvater, das war schon vor dem Krieg.
Großvater Hier sind die Leute immer noch reich. Einen Bierbrauereibesitzer. Vor dem Krieg hatten wir auch ein Geschäft, alles konntest du dort kaufen, frag deine Mutter.
Jarmilka Die Mutter sagt, du bekommst hier einen Tabakladen, als Wiedergutmachung.
Großvater Ich lieg euch auf der Tasche. Aber du, Jarmilka, du lässt mich nicht gehen, sag, du lässt mich nicht fort.
Jarmilka Wo sollst du auch hin, Großvater, du kennst hier niemand. Ich nehme dich zu mir und kaufe dir einen Lehnstuhl, wie du ihn auch zu Hause hattest.
Großvater Glaub nicht, ich werde dir zur Last fallen, so ein Tabakladen ist eine richtige Goldgrube.

Frau Kraus kommt aus dem Verwaltungsgebäude.

Frau Kraus Haben Sie schon einen Antrag gestellt? Als Kriegsversehrte müssen Sie einen Antrag stellen. Ein Formular ausfüllen. Die Formulare gibt es in der Verwaltungskanzlei, in der Schublade. Wo haben sie denn gekämpft?
Großvater Ich bin bloß ein Opfer.
Frau Kraus Das sind wir ja alle, Herr Mundstock.

Herr Krautgartner kommt mit einem Stapel Laken aus dem Verwaltungsgebäude.

Krautgartner Die Laken, Frau Kraus ...! (zu Großvater) Und? Atmen Sie auf in der Freiheit?
Frau Kraus Einen Tabakladen möchte er hier haben.
Krautgartner Mir scheint, Sie verwenden fast kein Waschpulver.
Frau Kraus Alles mit Kernseife, Herr Krautgartner, wie früher. Das Omo spare ich mir auf für die Feinwäsche. (zu Jarmilka) Wenn Sie welche haben...
Jarmilka Feinwäsche!
Krautgartner Sie vergessen, dass wir im Wohlstand leben,
Frau Kraus (zu Jarmilka) Na - vielleicht nächstes Mal. (steckt ihr schnell eine Lakritzenschlange zu und ab.)
Krautgartner (zeigt die grauen Laken mit Löchern) Mit Kernseife!
Jarmilka Glauben Sie, Herr Krautgartner, dass mein Vater hier eine Stelle findet?
Krautgartner Überhaupt kein Problem! Das Historische Seminar in St. Pölten hat schon wegen einer Vortragsreihe angerufen. (zu Großvater) Sie müssen stolz sein auf Ihren Schwiegersohn?
Großvater Er schämt sich für mich, wissen Sie? Jetzt aber, Jarmilka, werde ich wieder beten. Und am Freitag mache ich den Tabakladen zu und öffne ihn erst sonntags wieder.
Jarmilka Und ich kaufe mir lauter weiße Spitzenwäsche, damit Frau Kraus was zu waschen hat.
Krautgartner Die verdient immer gern dazu. Aber der Laden bleibt am Sonntag geschlossen.
Großvater Sagen Sie, war das hier immer schon ein Lager?
Krautgartner Die Flüchtlinge, Herr Mundstock, das ist ein Erbe der alten Monarchie. Der Kaiser sorgte für jeden.
Großvater Der Kaiser, der hatte uns gern.
Krautgartner Besonders wenn der Hörbiger ihn spielt. Heute Abend ist hier eine Filmvorführung. Und nachher gibt es das Verbrüderungsfest der geflüchteten Völker. Aber die Völker vertragen sich schlecht.
Poltawetz (schleicht sich von außen an den Zaun) Krautgartner, Krautgartner, du böser Wolf, wie viele Schäfchen hast du neu zu hüten?
Krautgartner (wirft einen Stein nach ihm) Hau ab, dreckiges Schwein! (Poltawetz läuft weg) Wir kommen aus demselben Dorf, aber ich leite hier das Flüchtlingslager, während er in einer Werkstatt Transistorradios repariert.
Großvater Und wie lange leiten Sie es schon?
Krautgartner Ich habe schon als Jugendlicher ein Pfadfinderlager geleitet. Der Staat hat immer Vertrauen zu mir gehabt, aber die Laken machen mir Sorgen. Ich werde Frau Kraus vielleicht entlassen müssen.
Jarmilka Das wäre aber schade, wo sie zu mir so nett ist.
Krautgartner Ich habe sie schon einmal in der Verwaltungskanzlei überrascht.
Großvater Bei uns ist einmal eingebrochen worden. In der Nacht. Am nächsten Morgenlag alles auf dem Boden, die Schulhefte, das Garn, die Birnen, sogar die Zigarettenspitze aus grünem Jade. Aber nichts ist weggekommen, nichts ist gestohlen worden.
Jarmilka Vielleicht wollte Frau Kraus nur schnell die Antragsformulare sehen.
Krautgartner Welche Antragsformulare?

Mila kommt aus dem Frauenhaus

Mila Lieber Herr Krautgartner! Glauben Sie vielleicht, wir hatten zu Hause Laken aus Satin?! Ein Flüchtlingslager ist schließlich kein Hotel!

Professor Holzknecht kommt vor die Tür des Männerhauses.

Holzknecht Liebling, musst du denn so schreien? Einen schönen Nachmittag euch allen. (ab)
Krautgartner (ruft ihm nach) Das Historische Seminar in St. Pölten hat angerufen!
Mila Frau Waldauf! Sie hat uns nicht vergessen!

Professor Holzknecht kommt wieder aus dem Männerhaus.

Holzknecht (zu Krautgartner) Lang werden wir in Ihrem Lager wohl nicht bleiben.(zu Mila) Wenn du aufgeregt bist, dann nimm eine Tablette. Ist in der Reisetasche.
Mila Als ob du jeden Tag emigrieren würdest!

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Programmheft
 
 
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