Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe
Komödie in 5 Akten
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1977/78
Copyright Daniel Corti
Personen 3D / 11H
Ort der Handlung Zürich, am Zürichberg
Zeit der Handlung nächste Zukunft

Personen:

Okaal
Orlando, sein Sohn
Aurora, seine Tochter
Labasch, Grossaktionär
Kilfenora, seine Tochter
Oms, Geschäftsmann
Schkulk, Kleinaktionär
Tschass, Staatsanwalt
Zeithampel, Polizeichef
Vastasius, Stricher
Habann, Stricher
Kajetahn, Stricher
Chillchill, ein echtes Indiomädchen
Albion, ihr Bruder

 

Über das Stück

Nicht nur in der durch Flucht verlassenen östlichen, sondern auch in der westlichen Gesellschaft, die ihn aufgenommen hat, findet M. Zochow den schwachen Punkt. Es ist unter anderer Fassade fast der gleiche. Doch auch dessen komische Seiten treten nun hervor, und der Ton ist ein anderer.

Chillchill, die Ältere der beiden Indio-Waisen aus Guatemala, hat Deutsch gelernt zu sprechen, doch bleiben ihr die Beweggründe für was man in dieser Gesellschaft spricht fremd. Die Muttersprache hat sie verlernt. Ihr Bruder Albion liest Deutsch, ohne wirklich zu verstehen, er vertraut noch seinem Instinkt. Ihre Reinheit erzeugt bei den Schweizern Irritation, Bewunderung, Liebe, aber die lieblose Gewohnheit ist diesen Leuten doch noch lieber.

Die Geschwister scheinen Menschen gefunden zu haben, die mit ihnen zusammen ans Meer in ihre Heimat, nach Guatemala zu fliegen versprechen, doch die Gefühle stellen sich als falsche heraus.

Okaal, der Kaffee-Plantagenbesitzer wird bald sterben. Schkulk, der sich im Vorteil wähnende unterwürfige Kleinaktionär wird schon übermütig und schürt Intrigen. Die Mächtigen nützen seine Dummheit aus, bringen ihn mit Gewalt zum Schweigen, und abgesehen von ein bisschen anders verteiltem Geld, einem noch vor seinem Vater gestorbenen Sohn, zwei in ihr von Krieg zerstörtes Land abgeschobenen, ausgenützten Waisen, bleibt alles beim Alten. Sein Tod, gebracht durch den zu Tode erschreckten, provozierten und auch dadurch ausgenützten Guatemala-Jungen, ist Orlando wenigstens lustbringende masochistische Erfüllung gewesen. Und er hat auch dem Polizeichef, Mitwisser, vorzügliche Gelegenheit geboten, gleich mehrere missliebige, unter Verdacht gestellte Gruppen und Organisationen zu verbieten.
(Daniel Corti)

Eine groteske Abrechnung mit einer Schweizer Aktionärsclique, die mit südamerikanischen Kaffeeplantagen ihr Geld verdient. In der märchenhaften Erscheinung von zwei jungen Indios, die die Aktionärstochter von einer Plantagenbesichtigung mitgebracht hat, widerspiegelt sich die Verkommenheit der Schweizer Bankenwelt. In ihrer Fremdartigkeit werden sie Opfer von Hass und Geschäftemacherei, aber auch von Sehnsüchten und Begierden. Das Ende ist von Tschechowscher Trostlosigkeit: als aus Guatemala beunruhigende Nachrichten kommen, kehren die Indios heim. Die Schweizer bleiben desillusioniert und kompromittiert zurück.
(Felix Bloch Erben-Zeitung)

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Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe

1. Akt - Wohnhalle

Der Marmorboden ist glatt wie Eis. Im Licht der Scheinwerfer reflektiert er. Chillchill und Albion treten leise ein, nehmen Anlauf und schlittern. Das Licht wird schwächer.

Chillchill Und das machen wir jetzt jeden Tag.

Sie schlittern. Albion rutscht aus, fällt, Chillchill fängt ihn rechtzeitig auf und kitzelt ihn. Albion lacht

Albion Nein!
Chillchill Lach! Lach! Du musst jetzt lachen. Viel lachen.
Albion Wenn das weh tut, bei der Angst.
Chillchill Keine Angst. Die Mama schläft jetzt.
Albion Wenn sie aufwacht...
Chillchill Sie schläft. Sie ist müde vom Fliegen.

Chillchill kitzelt Albion, Albion kitzelt Chillchill und beide lachen.

Chillchill Das machen wir jetzt auch immer. Immer!
Albion Was? Fliegen?
Chillchill Nein. Lachen. Geflogen sind wir schon, aber gelacht haben wir noch nicht. Vorbeigeflogen an zu viel Schönheiten. Wir hatten keine Zeit zu lachen.
Albion Ich habe keine Schönheiten gesehen.
Chillchill Aber ich. Ich habe mir die Schönheiten durch das Fenster gemerkt. Das Meer! Und die Städte! Und die Wälder! Es war ein Schreck. Ich wusste: an die Schönheit komme ich heran, wenn das Flugzeug abstürzt. Sonst nicht. Sonst geht die Reise weiter in die Schweiz«
Albion Und die Schweiz? Ist sie keine Schönheit?
Chillchill Jetzt fliegen wir auch nicht. Jetzt sind wir auf dem Boden. (Berührt den Boden) Weisst du, wie er heisst? Marmor!
Albion Marmor!
Chillchill Er ist so hart, dass er dir den Schädel spaltet, wenn du auf ihm ausrutschst.

Albion hält sich am Tisch an, auf welchem eine Zeitung liegt und ein Salzgefäss steht, das durch Albions Tischberührung umkippt. Albion erstarrt. Chillchill stellt das Salzgefäas wieder auf und schüttelt sich das Salz von der Zeitung in die Hand. Aus der Hand leckt sie die Salzkristalle mit der Zunge auf.

Chillchill Jetzt merkt es niemand. Lach!
Albion (liest die Zeitungsstelle, auf welcher das Salz gelegen ist) "Pforzheim.
Vorschrifstsmässig wurden einem Randalierer in Pforzheim bei der Einlieferung in die Arrestzelle die Taschen entleert. Eine Stunde später lag der Mann mit aufgeschnittenen Pulsadern tot in seiner Zelle. Des Rätsels Lösung: Der Festgenommene hatte sein Glasauge herausgenommen, es auf dem Boden zertreten und sich mit den Scherben die Adern aufgeschlitzt."
Chillchill Nichts mehr! Alles weg! (Zeigt Albion die leeren Hände) Weisst du noch? Im Frühjahr konntest du kaum lesen. "Die schwarzen Käfer", hast du gesagt.
Albion Lesen kann ich: jetzt habe ich die Käfer auch im Hirn. Aber was lese ich? Was habe ich gerade gelesen? Ich weiss es nicht. Ich weiss, wie sich die Dinge schreiben, aber das hat mir die Dinge weggenommen. Chillchill, auch du, wenn ich an dich denke, du bist Käfer. Das bist nicht du.
Chillchill Das ist das Schreiben nicht, das ist das Reden.
Albion Aber warum reden wir dann?
Chillchill Weisst du, als uns Mama zu sich nahm, da warst du noch ganz klein, aber ich konnte schon wollen. Und ich wollte die Sprache nicht. Aber dann merkte ich, die hat mir die Sprache voraus. Und deshalb reden wir. Aus Notwehr. Ich dachte zuerst auch, dass die Sprache da ist, damit sie die Dinge wegnimmt, aber das stimmt nicht. Sie ist da, damit der eine dem anderen die Dinge wegnimmt. Mit der Sprache. Jetzt heisst alles nur noch. Die Dinge, wir haben sie lächerlich gemacht.
Albion Aber auf dem Kamm spielen, das heisst nichts, das ist noch was.
Chillchill Ja, das muss man nicht verstehen, das ist für jeden da. Das ist uns geblieben.

Albion läuft sehr schnell weg. Man hört ihn schreien:

Albion Ich kann ihn nicht finden!
Chillchill Unter dem Spiegel!

Aurora Okaal stürzt herein.

Aurora Licht! Licht! Ich brauche Licht! Keine Schatten! Ein Schatten!

Albion erscheint mit einem Kamm in der Hand.

Chillchill Kein Schatten! Das ist ein Mensch, kein Schatten.

Albion geht auf Chillchill und Aurora zu. Aurora schreit leise auf.

Aurora Leg das weg! Sofort weglegen!
Chillchill Das ist nur ein Kamm.
Aurora Ein Kamm, ach. Mein Kamm! Leg ihn sofort weg! (reisst ihm den Kamm aus der Hand und kämmt sich) Die Nerven. Ich verliere die Nerven, und bin schon zu Hause. Das ist zum Lachen.
Albion Die alte Heimat. Muh. Muh.
Aurora Lach nicht. Sei froh, dass du da bist. Oder willst du, dass man dir mit einer Axt den Schädel spaltet?
Albion Wie der Boden.
Aurora Was ist?
Albion(zeigt auf den Boden) Der Boden...
Aurora Das ist Marmor. Sehr teuer.
Albion Muh, muh, das macht die Kuh, huu, huu, das macht die Eule.
Aurora Wenn du wüsstest, wieviel Geld es mich gekostet hat, bis ich nur ein Durchreise-Visum für dich bekommen habe! In Guatemala hätte man dich erschossen.
Albion Indios schiessen nicht auf Indios.
Aurora Aber du bist kein Indio mehr. Kannst du indianisch? Sag was!

Albion schweigt.

Aurora Sag!

Albion schweigt.

Aurora Siehst du. Du kannst nur deutsch.
Albion Nein! Nein! (reisst Aurora den Kamm aus der Hand, legt die gelesene Zeitungsstelle drauf und bläst.)
Aurora Und was heisst das?
Chillchill "Ich bin froh, dass ich in der schönen Schweiz bin."
Aurora Das sagt er?
Chillchill Ja.
Aurora Ob das stimmt... (gibt Albion ein Bonbon)
Albion Nichts heisst das.

Aurora nimmt ihm das Bonbon wieder weg.

Aurora Warum bist du hier?! Warum erschreckst du mich?! Warum zeigst du dich?! Wenn Herr Zeithampel kommt und dich sieht!

Aurora wird Albion unheimlich, und er läuft weg.

Aurora Ich hätte ihn in Guatemala lassen sollen, aber er kniete vor mir und bat und weinte und küsste mir die Füsse. Was sollte ich? Er ist so unnütz! Jetzt kann er lesen, aber klug ist er nicht geworden. Er ist dumm. Ich wollte ihn nicht adoptieren. Ich wollte nicht.
Chillchill Er wirft es Ihnen auch nicht vor.
Aurora Ich bin nicht gut genug, auf die Dauer. Ein Durchreisevisum! Zwölf Stunden! Wie lange schlief ich? (schaut auf die Uhr)Jetzt ist es sechs. Dreizehn Stunden! Die Zeit ist abgelaufen. Eine Aufenthaltsbewilligung bekommt er nicht. Er kann nichts und hat kein Geld. Und ich habe auch kein Geld, für ihn. Die Tränen - auf einmal wurde ich zu gut. Und jetzt, Chillchill, ich bin mir nicht gewachsen.
Chillchill Haben Sie keine Angst, Mama, Albion bleibt im Gartenhaus und kommt nur nachts heraus. Wie eine Eule.
Aurora Warum verstehe ich ihn nicht? Und warum verstehe ich dich? Ihr seid doch Geschwister. Du hast so schnell gelernt. Ich musste so viel weinen, als mir der Hund gestorben ist, ich war so unglücklich, und dann nahm ich euch zu mir. Du hast sofort alles verstanden und konntest bald auch grüsssn und auf Dinge zeigen und sagen, wie sie heissen, Kaffee und Haus und Spiegel, aber Albion blieb stumm und schaute zum Himmel, wie die Sonne wandert. Du warst so glücklich! Du wirst sehen, du wirst einen Schweizer heiraten und Kinder haben. Hast du mich gern?
Chillchill Ja, Mama, Ja, Glauben Sie es endlich.
Aurora Weisst du, dass ein Jahr für den Hund so viel ist wie sieben Jahre für den Menschen? Deshalb sterben sie so schnell. Ich selber habe schon zwei begraben.
Chillchill Und der Grossvater, wann kommt er?
Aurora Um neun. Kannst du es schon?
Chillchill (deklamiert) Grossvater! Sie haben so gute Augen! Die Gletscher in den Bergen und die grünen Wiesen! Alles ist so schön hier! Ich bin so glücklich in der Schweiz! Hier bin ich zu Hause. Alle sind so lieb zu mir! So unglaublich gut!
Der Herrgott selber nahm mich an der Hand und führte mich auf eine Alpenwies,
er führte mich ins neue Heimatland, das ist kein Land, das ist ein Paradies!
Aurora Ach nein! Das muss man anders sagen. Die Worte stimmen, aber das Gefühl stimmt nicht.
Chillchill Wenn ich ihn nicht kenne...
Aurora Er ist schon alt. Und krank. Du musst ihm Freude machen. Und du musst lauter reden. Der Grossvater ist taub. Er ist so geizig. Es wird immer schlimmer. Und mich mag er nicht. Verstehst du Chillchill, er stirbt. Er muss dich liebgewinnen. Sei lieb! Ich bitte dich, sei lieb! Ich mag ihn nicht, aber du sei lieb! Ich habe dich adoptiert, weil ich dich gern habe, aber ich möchte davon auch etwas haben, sei lieb, Chillchill, Enkelin, sei lieb! (küsst Chill-chill) Zieh das weisse Kleid an. Das hatte ich beim Abschiedsessen an. Wie lang ist es her? Zweiundzwanzig Jahre! Du meine Güte! Und jetzt bin ich dafür zu dick. Herr Tschass wird dich hervorzaubern. Das ist sein Hobby.

Aurora ab. Chillchill stellt sich gegen einen grossen Spiegel, der im goldenen Rahmen an der Wand hängt und übt ihre Begrüssungsrede für den Grossvater.

Chillchill Grossvater! Sie haben so gute Augen! Die Gletscher und die grünen Wiesen!

Kilfenora Labasch tritt ein und ist vom ersten Moment an von Chillchill bezaubert. Chillchill steht mit dem Rücken zu ihr und sieht Kilfenora im Spiegel nicht. Sie redet sehr laut, schreit fast, und lacht dazwischen.

[...]

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Foto: Bohdan Holomíček
 
 
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