KAMBEK
Dramatisches Märchen in drei Teilen
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1987
Copyright Daniel Corti
Uraufführung Staatstheater Stuttgart, 1987, Regie: Yossi Wieler
Personen 5D / 5H
Ort der Handlung archäologisches Lager in Samosata, Syrien
Zeit der Handlung Gegenwart

Personen:

Kambek
Frau Goebbels, Tochter von Josef Goebbels
Dr. Mengele, ihr Gatte
Aku Bakhar
Achmed
Helwa, seine Schwester
Youssif, ihr Verlobter
Hermine
Paulette
Afra

 

Über das Stück

[...] Auch das in Stuttgart uraufgeführte dramatische Märchen „Kambek“ ist ein „Mörderspiel“. Es wird in einem archäologischen Lager in Samosata in Syrien gespielt. In jenem Lager kommen unerwartete Dinge an den Tag, die Grabungen führen dazu, dass es den Vernichtungslagern der Nazis immer ähnlicher wird. Der Archäologe, der die Grabungen leitet, heisst Dr. Mengele und seine Frau ist die fiktiver Tochter von Goebbels. Unter den Arabern, die die Arbeiten ausführen, kursiert der Aberglaube, dass die Wiederentdeckung einer antiken Götterstätte drei Menschen das Leben kosten wird. Das Gerücht, dass ein Gespenst umgeht im Grabungsgebiet, konkretisiert sich mit dem Auftauchen von Kambek, Zochows in den meisten stücken auftauchender Jude, ruheloser Untoter und Wiedergänger – hier feiert er, wie schon der Name sagt, sein Comeback. Dieser Kambek, ganz Hamlet, will den Nachweis erbringen, dass Mengele jener Mengele ist, der so viele Juden in die Gasöfen geschickt hat. Sei „Spiel“ kostet, wie der Aberglaube es verhiess, drei Menschen das Leben. Jäger und Gejagte liegen am Ende vereint im Grab. „Wie ähnlich sie sich jetzt sind“, stellt Abu Bakhar fest. „Kambek“ ist ein leises, trauriges Stück, in dem es wie in „Sterns Stunden“ und in „Die Reise zum Mond“ eine unmögliche Liebesgeschichte gibt – hier zwischen Kambek und dem Mädchen Helwa, der Verlobten eines der arabischen Arbeiter.[...]
(Klaus Völker, Der Tagesspiegel 30.11.91)

Das Spiel mit den nichtgelebten Möglichkeiten verlangt nach einer Art von Künstlichkeit, wie sie nur bei wirklich schlimmen Schmierenkomödianten und bei besten Schauspielern zu finden ist. Gerade das aber macht es den deutschen Stadttheatern so schwer...
(Frank Busch, Die Zeit 24.11.1989)

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Kambek

I 1 An der Ausgrabungsstätte

Abu Bakhar gräbt. Achmed und Youssif liegen unter einem Zeltdach und rauchen gemeinsam eine Zigarette. In einem Feldstuhl sitzt Dr. Mengele. Ein Schaf schreit auf. Achmed und Youssif stehen auf und fangen an zu graben. Frau Goebbels tritt auf. Sie nähert sich in ihrem schönen schwarzen Kleid auf einem schmalen Pfad den Arbeitern. Ihr Gesicht ist weiß gepudert, sie trägt einen weißen Sonnenschirm mit großen schwarzen japanischen Zeichen in kalligraphischer Schrift als Muster.

Frau Goebbels Nichts?
Abu Bakhar Nichts, Madame. Nur Erde, Sand und Stein.
Frau Goebbels Und ihr kommt auch kein bisschen weiter! Habt ihr Angst?
Abu Bakhar Ich nicht, aber ich bin alt.
Frau Goebbels Und ihr? Warum arbeitet ihr nicht? Nach der Freilegung des Tempels bekommt ihr eine Menge Geld. Ihr kauft euch jeder eine Frau oder sogar ein Auto.
Achmed Ich konnte auf heute die ganze Nacht nicht schlafen. Ich lag auf dem Rücken, die Augen auf, und hatte Angst vorm Tod.
Frau Goebbels Ein dummer Aberglaube! Wir brauchen keine Menschenopfer mehr, Achmed! Wir wollen aus kulturellem Interesse nur die Stelle finden, wo früher Menschen starben, um die Götter zu versöhnen. Der Tod des Menschen deckt uns das Wesentlichste auf aus seinem Dasein, so wie der Baum erst ausgerissen uns seine Wurzeln zeigt.
Youssif Ich aber möchte leben! Dieser Ort, Madame, hat sein Geheimnis.
Frau Goebbels Ihr seid zu faul, ihr wollt nichts tun, wie gut ich das verstehe! Ich bitte euch aber: strengt euch an!
Youssif Nach dem Sonnenuntergang steigt aus dem Graben dort ein furchtbares Gespenst. Es schleicht sich an unser Zelt heran und stört unsern Schlaf.
Frau Goebbels Ein Gespenst? Was sagst du?! Ein Gespenst steigt aus dem Graben? (lacht) Das Gespenst möchte ich sehen!

Ein Schaf schreit auf.

Frau Goebbels Was war das?
Abu Bakhar Ein Hammel. Wir essen ihn heute Nacht.

Frau Goebbels zieht lange weiße Handschuhe an. Sie beobachtet die untergehende Sonne.

Frau Goebbels Geh endlich unter, Sonne! (dreht sich um, zu Dr. Mengele) Vielleicht ist das Gespenst ein großes Tier, das bei einbrechender Dunkelheit zur Tränke geht.
Dr. Mengele Hier gibt es keine Tränke.
Frau Goebbels Aber vielleicht gab es einmal eine hier. Und zufällig verirrte sich
ein Löwe in den Tempel. Erschrocken gab man ihm zu trinken. Am nächsten Abend
kam der Löwe wieder. Und am dritten Abend gehörten bereits sein Kommen und sein Tränken zur rituellen Handlung. Über Generationen blieb der Brauch lebendig, und die Erinnerung daran begann sich zu vererben. Noch heute suchen Tiere hier nach Wasser. Sie kommen und wissen nicht warum! Denn hier ist alles tot! (sie lacht)
Dr. Mengele Was die Vererbung betrifft, war es mir leider nicht vergönnt, meine Forschungen abzuschließen. Es dürfte aber schwierig sein, hier ein solches Tier zu finden. Von Tieren leben hier nur jene, die zum Schlachten vorbestimmt sind. Schafe. Hammel, ein paar Ziegen... Die erinnern sich an nichts. Wozu auch? Sie werden morgen sterben.
Frau Goebbels Endlich! Endlich geht die Sonne unter!

Die Arbeiter hören auf zu graben und gehen zum Zeltdach.

Frau Goebbels Sie haben Angst. Mal sehen. was aus dem Graben kommt!
Dr. Mengele Was immer es auch ist, es beweist die Anziehungskraft dieses Ortes.
Achmed Es kommt!

Eine Gestalt steigt aus dem Graben.

Frau Goebbels Zünden wir die Lampe lieber an. Wenn das ein Dieb ist, wird er Angst bekommen und verschwinden.

Abu Bakhar zündet eine Öllampe an. Die Gestalt bleibt stehen und geht dann auf die Gruppe zu.

Dr. Mengele Es riecht nach verbrannten Haaren.
Frau Goebbels Das ist der Hammel, den sie braten. Der Ostwind trägt uns den Gestank zu.
Dr. Mengele Es gibt hier keinen Ostwind.

Die Arbeiter ergreifen die Flucht. Die Gestalt bleibt vor dem Zeltdach stehen. Es ist Lew Kambek.

Kambek Ich sah das Licht und konnte der Versuchung nicht länger widerstehen.
Frau Goebbels Sie haben uns erschreckt. Warum verstecken Sie sich in dem Graben? Er gehört zum wissenschaftlichen Gelände.

Kambek antwortet nicht.

Frau Goebbels Sie möchten uns ein Geheimnis bleiben? Eine Sphinx?
Kambek Ich denke nur an jenen Toten, der zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Es fiel ihm nicht mal ein, er könnte sie erschrecken. Aber als sie ihm nicht glaubten, dass es wirklich er war, begann er sie zu überzeugen, dass er noch lebte. Da verflüchtigte sich alles und zerbröckelte in Mondlicht. Spinnennetz und Friedhofsmauer...
Dr. Mengele Hier gibt es keine Friedhofsmauer.
Kambek Vielleicht friere ich auch deshalb; auch habe ich schon viele Nächte nicht geschlafen...
Frau Goebbels Sie sind erschöpft! Sie haben Fieber! Im Wahn erscheinen Ihnen Tote, ein Rauch der Erinnerung aus dem Feuer Ihrer kranken Phantasie.
Kambek Ich suche den Mörder meiner Eltern und meines Bruders.
Frau Goebbels Aber warum suchen Sie ihn hier in dieser unbelebten Gegend? Sie erschrecken nur die Arbeiter und halten sie von ihrer Arbeit ab.
Kambek Ich schaute ihnen zu: sie mühen sich ab und schwitzen, damit sich eine Geste wiederhole.
Frau Goebbels Welche Geste?
Kambek Sich das eigene Grab zu schaufeln.
Frau Goebbels Sie schaufeln nicht ihr Grab! Wir suchen nach den Mauern eines Tempels!
Kambek Auch dieser Ort braucht Tote, um das Versteck des Gottes preiszugeben. Als ich im Dorf an der Tankstelle nach dem genauen Standort Ihres Lagers fragte, verstummten die Leute.
Dr. Mengele Sie scheinen mehr als wir zu wissen. Ich halte mich an Fakten.

Dr. Mengele bietet Kambek den Arm.

Frau Goebbels Wir geben Ihnen Tee und eine Kleinigkeit zu essen. Und während Sie erzählen, kommen Sie zu Kräften.

Frau Goebbels reicht Kambek die Hand.

Kambek Ihr weißer Handschuh! Er ist schwarz geworden.
Frau Goebbels Das ist nichts. Ein bisschen Ruß. Wohl von der Lampe.

Sie nimmt die Lampe. Sie gehen alle drei auf dem schmalen Pfad weg.Das Lagerfeuer wirft roten Schein auf die Gräber. Dunkel.

I 2 Im Haus

Ein Raum, ausgeleuchtet mit Kerzen. Kambek trinkt Tee. Eine verhüllte Frau, Helwa, beobachtet ihn.

Kambek Auch hier umzäunt ein Stacheldraht das Lager.
Helwa Zum Schutz.
Kambek Für welche Seite?
Helwa Damit uns nichts Böses zustößt.
Kambek Sie aber mussten sterben.
Helwa Wer?

Frau Goebbels tritt auf. Sie hat ein Abendkleid an und ist geschminkt.

Frau Goebbels Geh, Helwa, und bring dem Herrn Zucker!

Helwa verlässt den Raum.

Frau Goebbels Sie wird bald heiraten.
Kambek Einen Toten?
Frau Goebbels (zu Helwa, die unbemerkt eingetreten ist) Gib uns den Zucker und verschwinde.

Helwa ab.

Frau Goebbels Warum sagen Sie so etwas? Dazu noch vor ihr!
Kambek Drei Menschen müssen sterben, damit Sie auf die Tempelmauern stoßen.
Frau Goebbels Ein Aberglaube! Wie sollen sie denn sterben? Sollen wir sie vielleicht in ihrem Zelt erwürgen? Oder statt Zucker ihnen in den Tee Zyankali geben? (schaut auf Kambeks Tee) Trinken Sie das lieber nicht.
Kambek Der alte Abu Bakhar könnte an Erschöpfung sterben, Achmed und Youssif werden später bei einem Fluchtversuch erschossen werden.
Frau Goebbels Was? Wieso erschossen? Von wem?
Kambek Von ihrem Gatten. -
Frau Goebbels Josef kann doch überhaupt nicht schießen! Haben Sie seine Hände nicht gesehen? Die Hände eines Wissenschaftlers. Und abgesehen davon besitzt er keine Waffe.

Dr. Mengele tritt herein. Kambek zieht aus seiner Tasche einen Revolver.
Kambek Kennen Sie die Waffe noch?
Dr. Mengele Wo haben Sie das her?
Kambek Die Waffe erstand ich für einen Liebhaberpreis in New York. Man versteigerte in einem kleinen Haus in Brooklyn alle Gegenstände, die man in Auschwitz in den Räumen der Verwaltung gefunden hatte.
Dr. Mengele Ich bin in Auschwitz nie gewesen.
Frau Goebbels Mein Mann war damals Privatdozent in Marburg. Er untersuchte die verschiedene Belastbarkeit von Zwillingen.
Kambek Ich weiß. Ich hab es überlebt. Mein Bruder nicht.

Der Wind bläst einige Kerzen aus.

Frau Goebbels Das ist der Wind. Hoffentlich beruhigt Sie die Kühle und verscheucht die bösen Wahnbilder.
Dr. Mengele Ich bin stets bemüht gewesen, die Geheimnisse des Lebens aufzuschlüsseln. Dazu gehört natürlich auch sein Ende.
Kambek Ein Mord kann nicht mehr aufgeschlüsselt werden.
Frau Goebbels Ein Mord? Was sagen Sie?! Ist das der Dank für unsere Bewirtung? Sie werfen meinem Gatten etwas Ungeheueres vor. Aber das müssen Sie beweisen!
Kambek Deshalb bin ich hier. (zu Dr. Mengele) Nehmen Sie die Waffe. (zu Frau Goebbels) Der alte Gegenstand wird Ihren Gatten aufs neue zum Gebrauch verlocken und ihn mit neuem Mord des alten überführen.
Dr. Mengele Ich werde niemanden erschießen.

Kambek reicht Dr. Mengele die Waffe und geht ab.

Frau Goebbels Du lässt dich darauf ein?
Dr. Mengele Sonst könnte er mir Angst oder ein schlechtes Gewissen unterstellen.
Frau Goebbels Du hast doch nichts zu fürchten. Du warst die ganze Zeit in Marburg.
Dr. Mengele Aber selbstverständlich... Wie du zitterst!

Er will sie umarmen. Frau Goebbels weicht aus und wirft dabei eine Kerze um. Das Kleid von Frau Goebbels fängt Feuer. Frau Goebbels schreit auf. Dr. Mengele löscht das Feuer durch heftige Schläge. Dunkel.

[...]

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