Das Glockenspiel im schwarzen Palast
Schauspiel in 34 Szenen
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1974 / 75
Copyright Daniel Corti
Personen 4D / 5H
Ort der Handlung Mitteleuropa
Zeit der Handlung zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

Personen:

Madame, etwa siebzig Jahre alt
Obolon, ihr Enkel
Krautwachs, sein Freund
Stinkaas, etwa fünfzig Jahre alt, Hausangestellte bei der Madame
Russ, ihr Sohn
Beule, ihre Gehilfin
Fräulein Seelinger, etwa vierzig Jahre alt, Gemeindevorsteherin
Morchel, Gärtner bei der Madame
Fleck, Bezirksfunktionär

 

Über das Stück

Wieder geht es um Machtkampf und Machtmissbrauch. Diesmal sind es drei rivalisierende Frauen: 1. die 70-jährige an Krücken gehende, reiche Madame, 2. ihre Angestellte Stinkaas und 3. die Politikerin, die Gemeindevorsteherin Seelinger.

Alle drei haben ihnen anvertraute, junge Männer: Madame den ihr behilflichen Enkel, Obolon, den sie wegen seines Schwulseins als degeneriert bezeichnet und verachtet. Frau Stinkaas hat ihren Sohn Russ, den sie wegen seiner Behinderung, epilepsieähnlicher Sex-Anfälle, hasst, wofür sie aber von der Gemeinde finanzielle Unterstützung bekommen kann, weshalb sie vermeiden will, dass er in eine Anstalt gebracht wird. Ausserdem wohnt bei ihr noch Beule, die sie nur da duldet, um ihres Sohnes Anfälle aufzufangen. Frau Seelinger macht sich Krautwachs, den Postangestellten gefügig, dadurch dass sie ihn für heimlich von ihr der Post gestohlenes Geld haftbar macht.

Morchel hat zwar ein Gewissen, tut jedoch aus Angst alles. Die einzige Autorität, der Bezirksfunktionär Flick, ist zu weit weg und stellt sich dann auch als sehr bestechlich heraus. Beule muss, als es der Stinkaas Vorteile bringt, auch da herhalten.

Der Russ liebt sie, doch den mag sie nicht (“Trottel haben diese Gefühle nicht, nur Triebe, das weiss man”). Sie liebt den in seinem Selbstvertrauen angeschlagenen Obolon, den die zweimal vor dem Selbstmord bewahrt. Aber ihre Liebe geht nicht soweit, dass sie dessen Schwulsein anerkennt, sie will ihn heilen. Obolon liebt Krautwachs, der zu ihm kommt, nur um an Geld zu gelangen. Am Ende nach fünf Morden, drei aus Berechnung (bei einem davon trifft es den Falschen) und zwei im Affekt, ist es Obolon, der einen Anfall von Russ lindert. So klingt die Musik in einem schwarzen Palast.

Die Handlung wird in 34 comic- oder filmartigen kurzen Szenen vorangetrieben.

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Das Glockenspiel im schwarzen Palast

1. Szene

Halbdunkel

Morchel weicht vor Seelinger ängstlich zurück. In einer Ecke angelangt, wird er von ihr gefangen und vorsichtig, aber mit Gewalt zum Tisch geführt. Morchel hat      
l ä h m e n d e   Angst. Seelinger übt einen festen und langsamen Druck auf seine Schultern aus und zwingt ihn damit, sich zu setzen, als ob ihn jemand würgen würde, schreit Morchel leise: “Ne, Ne!” Seine Hände sind in Fäuste geballt. Seelinger öffnet ihm gewaltsam die rechte Hand und zwingt ihm einen Füllfederhalter hinein. Morchels Hand verkrampft sich. Seelinger nimmt sie, legt ein Blatt Papier auf den Tisch und legt die Hand aufs Blatt. Morchel wehrt sich: “Ne, Ne!” Seelinger führt seine Hand, beide schreiben. Morchel wird ohnmächtig. Mit grösstem Kraftaufwand hebt Seelinger seinen Körper und sagt mit leiser Stimme, als ob sie gehört werden könnte: “Die Unterschrift noch”. Morchel kommt nicht zu sich. Seelinger hält seinen ohnmächtigen Körper zwischen den Knieen, mit ihren beiden Händen nimmt sie seine rechte Hand mit dem Füllfederhalter und setzt unter das bereits Geschriebene noch die Unterschrift. Sie lässt den Morchel fallen, schaut dem Fall zu.

Dunkel

2. Szene

Dunkel

Russ' Stimme Zeigs Loch! Das Loch! Loch! Fotz! Fick Fotz! (sein Geschrei wird
unartikuliert).

Stinkaas' Stimme Licht! Beule, Licht, mach Licht!

Die Bühne wird hell. Russ wälzt sich am Boden mit Schaum am Mund. Stinkaas eilt ihm zu Hilfe. Beule, ein dickes hässliches Mädchen, steht beim Schalter und schaut zu.

Stinkaas Was stehst du so? Beeil dich, du Blinddarm!

Beule schüttelt den Kopf,
Beule Keine Lust.
Stinkaas Willst du ihn umbringen?! Du musst! Du musst, Beule, hörst du, du musst!

Beule schüttelt den Kopf,
Beule Keine Lust.

Stinkaas stürzt sich auf Beule und zerrt sie zu Russ.

Stinkaas Warum meinst du bist du hier? Los! Beine öffnen! (zu Russ) Da,schau!
(Streichelt ihn und zeigt zwischen die Beine von Beule) Da.
Beule Aber ich will nicht.
Stinkaas (zu Russ) Komm, hier. (hebt Beules Rock hoch; zu Beule) Und du sei still! Du bist dafür da.

Russ stürzt sich auf Beule.

Stinkaas Brav, brav, es geht vorbei, es geht vorbei... (streichelt Russ)

Dunkel

3. Szene

Durch ein Fenster fällt Licht in die Mitte des Raums. In der Mitte des Raums steht Madame. Madame ist schwarz gekleidet, unbeweglichen Gesichts und stützt sich auf Krücken.

Madame Den Ring!

Erst jetzt nimmt man auch die andere Gestalt auf der Bühne wahr, den Obolon, der im Hintergrund stand und nun den Ring bringt. Obolon ist sanft, nicht betont weich, jedoch sehr zart. Er hilft der Grossmutter beim Aufsetzen des Rings. Für Madame ist seine Hilfe eine Erniedrigung.

Madame Nicht so!
Obolon Verzeihen Sie!
Madame Das Armband!

Obolon bringt das Armband; hilft der Grossmutter.

Madame Die Kette!

Obolon bringt die Halskette. Wie er ihr die Kette um den Hals legt, flüstert er ihr
schnell ins Ohr.

Obolon Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht!
Madame Ruhe!
Obolon Verzeihen Sie!
Madame Die Handschuhe!

Obolon bringt ihr die Handschuhe. Beim Anziehen der Handschuhe verliert die Madame das Gleichgewicht und fällt vor Obolon auf den Boden. Obolon hilft ihr sofort.

Obolon Das war symbolisch, das war sicher symbolisch! Madame (hält sich fest an den Krücken) Ich fürchte mich nicht.
Obolon Aber ich. ich habe Angst.
Madame In unserer Familie wird nicht gefürchtet.
Obolon Aber ich habe Angst.
Madame Weil du degeneriert bist. Begleite mich!

Obolon führt sie zur Tür.

Obolon Ich bin nicht degeneriert, ich bin nicht degeneriert! Ich habe nur Angst. Madame Angst, weil du degeneriert bist.
Obolon Ich bin nicht degeneriert!
Madame Und der Krautwachs?

Obolon schweigt.

Madame Du liebst den Krautwachs.
Obolon Aber... aber... ich habe Angst (stockt) um Sie!
Madame Mir geschieht nichts! Fräulein Seelinger hat mich eingeladen, Fräulein Seelinger haftet für meine Sicherheit.
Obolon Die haftet für nichts. Für die Eltern von Beule hat sie auch gehaftet, und...
Madame Hinter mir steht die Geschichte.
Obolon Die stand schon hinter vielen...
Madame Ich habe an den Bezirk geschrieben. Ich bat um ihre Absetzung
Obolon Und es half nichts.
Madame Alle ihre Verbrechen habe ich aufgezählt.
Obolon Warum? Wem nützt es?
Madame Mir. Mir nützt es.
Obolon Dass Sie die Seelinger umbringen lässt? Und mich?
Madame Mich umbringen kann sie nicht. Und um dich ist es nicht schade.
Obolon Grossmutter!
Madame Die Tür!

Obolon öffnet die Tür. Madame, den Rücken zum Publikum, entfernt sich an den Krücken durch einen langen Gang.

Dunkel

[...]

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