AUS BÖHMISCHEN DÖRFERN Märchen |
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"Welch ein Wagnis, zum Hades zu steigen, dort wo die Toten Personen: Der Großvater
Nach zwölf Jahren Abwesenheit machen Nathalie und Moritz einen Besuch zu Hause. Offenbar hat ihre einstige Abreise ihrer Familie einen Schock versetzt , der ihr Leben hat erstarren lassen. Wie in anderen Märchen braucht es passende Schuhe und Küsse, einen Holunderbusch, um diese Welt aus ihrem Bann zu erlösen. Wie in „Liebe spielen“ und „Sterns Stunden“ werden Rollen neu verteilt und angenommen, die alten so noch einmal durchgespielt, um über die Stockung hinweg wieder in den Lebens-Fortlauf zugelangen. Moritz, der intuitiv sieht, was zu tun ist und darauf vertrauend es mit schlafwandlerischer Sicherheit tut oder zulässt, wirkt als Katalysator für die Entwicklung des Geschehens, und des Lebens aller und verjüngt auch sich dadurch. Muni (sprich französisch Müni), ihre junge Schwester, ist das „Neue“. Sie darf aus dem engelgleichen, schon zu engen Kinderdasein ins Leben eintreten. Frau Kaplan, die Mutter der beiden Brüder, kann nun ihr Alter annehmen, ihren Sohn Samuel loslassen und sich über und für die Jüngeren freuen und sie teilhaben lassen. Der Grossvater der beiden Schwestern lebt nur in der Vergangenheit. Wer wie Nathalie mit Moritz nach zwölf Jahren Abwesenheit zu Besuch kommt und der Erinnerung nicht mehr entspricht, verletzt ihn, den übergeht er. Wie unter Schatten im Totenreich kommt er sich vor, als bald auch alle anderen sich verändern. Und erst dann erscheint ihm das Leben wieder, als es niemand mehr stört, dass Vergangenes auch im Jetzt wieder sein darf. (Daniel Corti) Eine Rückkehr: Moritz und Nathalia werden mit den Erinnerungen belegt, die die Daheimgebliebenen von ihnen haben. Moritz selbst wird Opfer dieser Phantasien und verliebt sich in die eigene Erinnerung von der jungen Nathalia – personifiziert durch deren Schwester Muni. Künstliche Gefühle werden erweckt, um dort anzuknüpfen, wo man einmal aufgehört hat. Doch die Zeit ist nicht stehengeblieben. Die Realität ist nicht deckungsgleich mit den Bildern, die in der Erinnerung ruhen. Am Ende ist der Spuk vorbei – Moritz und Nathalia fliehen. Ein Traum? Oder ein Märchen – wahr und falsch zugleich. (Felix Bloch Erben-Zeitung)
Prolog Natalia und Moritz, beladen mit Koffern, Rucksäcken und Taschen, stehen an einer Bushaltestelle vor einer niedrigen Mauer mit einem Tor in der Mitte. Über der Mauer blüht ein Holunderbusch.Natalia Die Toten! Die Toten begrüßen uns zuerst. Sin schöner Empfang! Sie stellen das Gepäck ab. Moritz Der Holunder riecht wie damals. Derselbe Busch, derselbe Duft. Natalia Ich sollte springen, die Arme in die Luft werfen, mich freuen - oh! Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich war zu lange weg. Moritz Nichts hat sich verändert. Natalia Ob man uns wiedererkennt? Moritz Sie haben Bilder von uns. Jedes Jahr ein Bild. Zwölf Bilder. Natalia Ob sie uns immer noch gern haben? Vielleicht haben sie uns nicht mehr gern. Moritz Sie lieben uns alle nach wie vor. Natalia Warum? Sie lieben bestimmt jemand anderen. Bestimmt! Moritz Sie lieben uns, sie freuen sich auf uns, sie sehnen sich nach uns. Zwölf Jahre! Zwölf Jahre haben sie auf uns gewartet, und jetzt sind wir da. Natalia Aber wo sind sie? Sie sollten zum Bahnhof kommen, uns abholen, willkommen heißen in der alten Heimat, umarmen, Glückstränen vergießen, das Wiedersehen mit uns feiern - wo sind sie? Wo seid Ihr!? Wo seid Ihr geblieben?! Warum helft Ihr uns nicht, Eure Geschenke zu tragen? So viel Geschenke habt Ihr noch nie bekommen! Nie im Leben! (packt aus) Nichts Grosses, nichts Schönes, nichts Besonderes bringen wir Euch heim: lauter kleine gewöhnliche Dinge habt Ihr Euch gewünscht. Dreißig Mischgewürze-Döschen und fünfzig Päckchen Backpulver für meine Schwiegermutter! Ob sie mich dann wieder mag? Moritz Meine Mutter wird uns Kuchen backen. Unendlich viele Kuchen. Natalia Warum sind wir zurückgekommen? Aus Pflicht, aus Anstand? Ich weiß nicht, ob ich mich freue oder ob ich nur neugierig bin. Ob ich freiwillig die Geschenke auf dem Rücken schleppe oder nur aus Zwang - Lastträger ehemaliger Freundschaft, Sklave vergangener Liebe - Ich habe Angst, Moritz. Moritz (packt aus) Wir haben genug eingekauft, für alle, niemand kommt zu kurz, keine Angst, Natalia, keine Angst. Hier sind die Zigarren für den Großvater, hier die Schokoladen für deine kleine Schwester, und hier für meinen Bruder Samuel ein kleiner Hase, der nachts leuchtet... Natalia Und hier die rote Ledertasche für deine Mutter, die kann sie, wenn sie will, auch über die Schulter hängen, oh, ihr kleinen Dinge, ich habe gern für euch den Zoll bezahlt... Moritz Sie werden uns mögen, du wirst sehen, wir sind ihr Blut. Natalia Ihr altes Blut... Der Großvater, Muni, Frau Kaplan und Samuel erscheinen und gehen auf Moritz und Natalia zu. Natalia Sie kommen! Sie kommen! Die Bühne dreht sich. 1. Teil Im Garten des Großvaters. Im Hintergrund eine niedrige Mauer mit einem Tor in der Mitte. Vor der Mauer blüht ein Holunderbusch. Blumenbeete, Gartenmöbel. Ein Tisch mit Speisen und Getränken. |
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