AUS BÖHMISCHEN DÖRFERN
Märchen
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 80er Jahre (nicht überarbeitet, aber gekürzt)
Copyright Daniel Corti
Personen 4D / 3H
Ort der Handlung  
Zeit der Handlung  

"Welch ein Wagnis, zum Hades zu steigen, dort wo die Toten
ohne Bewusstsein weilen, die Bilder entschlafener Menschen."
Odyssee, 11. Gesang

Personen:

Der Großvater
Natalia
Muni
Frau Kaplan
Moritz
Samuel
Eine Bäuerin (Statistenrolle)

 

Über das Stück

Nach zwölf Jahren Abwesenheit machen Nathalie und Moritz einen Besuch zu Hause. Offenbar hat ihre einstige Abreise ihrer Familie einen Schock versetzt , der ihr Leben hat erstarren lassen. Wie in anderen Märchen braucht es passende Schuhe und Küsse, einen Holunderbusch, um diese Welt aus ihrem Bann zu erlösen. Wie in „Liebe spielen“ und „Sterns Stunden“ werden Rollen neu verteilt und angenommen, die alten so noch einmal durchgespielt, um über die Stockung hinweg wieder in den Lebens-Fortlauf zugelangen.

Moritz, der intuitiv sieht, was zu tun ist und darauf vertrauend es mit schlafwandlerischer Sicherheit tut oder zulässt, wirkt als Katalysator für die Entwicklung des Geschehens, und des Lebens aller und verjüngt auch sich dadurch.
Nathalia, seine Frau, die Angst hat, weil sie nicht mehr die Jüngste ist nicht mehr geliebt zu werden, wird erlöst vom Zwang, schön sein zu müssen und lernt, von ihrer Mutter anzunehmen, ihrer Schwester weiterzugeben, den einst abgewiesenen Samuel um Verzeihung zu bitten.

Muni (sprich französisch Müni), ihre junge Schwester, ist das „Neue“. Sie darf aus dem engelgleichen, schon zu engen Kinderdasein ins Leben eintreten.
Samuel, Moritz’ jüngerer Bruder, der nach einem Selbstmordversuch wegen der vergeblich geliebten Nathalia sich vom Leben zurückgezogen hat, darf dank dem Prozess, den der Besuch ausgelöst hat, wieder seine Empfindungen spüren und ihnen freien Lauf lassen.

Frau Kaplan, die Mutter der beiden Brüder, kann nun ihr Alter annehmen, ihren Sohn Samuel loslassen und sich über und für die Jüngeren freuen und sie teilhaben lassen.

Der Grossvater der beiden Schwestern lebt nur in der Vergangenheit. Wer wie Nathalie mit Moritz nach zwölf Jahren Abwesenheit zu Besuch kommt und der Erinnerung nicht mehr entspricht, verletzt ihn, den übergeht er. Wie unter Schatten im Totenreich kommt er sich vor, als bald auch alle anderen sich verändern. Und erst dann erscheint ihm das Leben wieder, als es niemand mehr stört, dass Vergangenes auch im Jetzt wieder sein darf. (Daniel Corti)

Eine Rückkehr: Moritz und Nathalia werden mit den Erinnerungen belegt, die die Daheimgebliebenen von ihnen haben. Moritz selbst wird Opfer dieser Phantasien und verliebt sich in die eigene Erinnerung von der jungen Nathalia – personifiziert durch deren Schwester Muni. Künstliche Gefühle werden erweckt, um dort anzuknüpfen, wo man einmal aufgehört hat. Doch die Zeit ist nicht stehengeblieben. Die Realität ist nicht deckungsgleich mit den Bildern, die in der Erinnerung ruhen. Am Ende ist der Spuk vorbei – Moritz und Nathalia fliehen. Ein Traum? Oder ein Märchen – wahr und falsch zugleich. (Felix Bloch Erben-Zeitung)

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Aus böhmischen Dörfern

Prolog

Natalia und Moritz, beladen mit Koffern, Rucksäcken und Taschen, stehen an einer Bushaltestelle vor einer niedrigen Mauer mit einem Tor in der Mitte. Über der Mauer blüht ein Holunderbusch.

Natalia Die Toten! Die Toten begrüßen uns zuerst. Sin schöner Empfang!

Sie stellen das Gepäck ab.

Moritz Der Holunder riecht wie damals. Derselbe Busch, derselbe Duft.
Natalia Ich sollte springen, die Arme in die Luft werfen, mich freuen - oh! Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich war zu lange weg.
Moritz Nichts hat sich verändert.
Natalia Ob man uns wiedererkennt?
Moritz Sie haben Bilder von uns. Jedes Jahr ein Bild. Zwölf Bilder.
Natalia Ob sie uns immer noch gern haben? Vielleicht haben sie uns nicht mehr gern.
Moritz Sie lieben uns alle nach wie vor.
Natalia Warum? Sie lieben bestimmt jemand anderen. Bestimmt!
Moritz Sie lieben uns, sie freuen sich auf uns, sie sehnen sich nach uns. Zwölf Jahre! Zwölf Jahre haben sie auf uns gewartet, und jetzt sind wir da.
Natalia Aber wo sind sie? Sie sollten zum Bahnhof kommen, uns abholen, willkommen heißen in der alten Heimat, umarmen, Glückstränen vergießen, das Wiedersehen mit uns feiern - wo sind sie? Wo seid Ihr!? Wo seid Ihr geblieben?! Warum helft Ihr uns nicht, Eure Geschenke zu tragen? So viel Geschenke habt Ihr noch nie bekommen! Nie im Leben! (packt aus) Nichts Grosses, nichts Schönes, nichts Besonderes bringen wir Euch heim: lauter kleine gewöhnliche Dinge habt Ihr Euch gewünscht. Dreißig Mischgewürze-Döschen und fünfzig Päckchen Backpulver für meine Schwiegermutter! Ob sie mich dann wieder mag?
Moritz Meine Mutter wird uns Kuchen backen. Unendlich viele Kuchen.
Natalia Warum sind wir zurückgekommen? Aus Pflicht, aus Anstand? Ich weiß nicht, ob ich mich freue oder ob ich nur neugierig bin. Ob ich freiwillig die Geschenke auf dem Rücken schleppe oder nur aus Zwang - Lastträger ehemaliger Freundschaft, Sklave vergangener Liebe - Ich habe Angst, Moritz.
Moritz (packt aus) Wir haben genug eingekauft, für alle, niemand kommt zu kurz, keine Angst, Natalia, keine Angst. Hier sind die Zigarren für den Großvater, hier die Schokoladen für deine kleine Schwester, und hier für meinen Bruder Samuel ein kleiner Hase, der nachts leuchtet...
Natalia Und hier die rote Ledertasche für deine Mutter, die kann sie, wenn sie will, auch über die Schulter hängen, oh, ihr kleinen Dinge, ich habe gern für euch den Zoll bezahlt...
Moritz Sie werden uns mögen, du wirst sehen, wir sind ihr Blut.
Natalia Ihr altes Blut...

Der Großvater, Muni, Frau Kaplan und Samuel erscheinen und gehen auf Moritz und Natalia zu.

Natalia Sie kommen! Sie kommen!

Die Bühne dreht sich.

1. Teil

Im Garten des Großvaters. Im Hintergrund eine niedrige Mauer mit einem Tor in der Mitte. Vor der Mauer blüht ein Holunderbusch. Blumenbeete, Gartenmöbel. Ein Tisch mit Speisen und Getränken.

Großvater Esst, trinkt, vergnügt euch! Ihr seid zu Hause! Zögert nicht! Nehmt euch, was ihr wollt. Wir feiern.
Natalia Es ist so viel, so ungeheuer viel.
Großvater Alles, was du gern hast. Alles ist da.
Moritz Schau mal! Grieben!
Muni Die hatte sie am liebsten.
Großvater Das weiß er. Er kennt sie. Er kannte sie auch hier.
Moritz Da warst du noch klein.
Natalia (zum Großvater) Du hast an meine Grieben gedacht! Nach so viel Jahren. Das ist schön.
Großvater Ich habe nichts vergessen. Du bist da, im Kopf, vollständig, jederzeit gegenwärtig. Außer der Erinnerung habe ich nichts. (Natalia berührt ihn. ) Kein Mitleid. Jetzt bist du da, lebendig, gesund, ganz so wie früher. Ich bin glücklich. Die Verzweiflung der letzten zwölf Jahre soll das jetzige Glück nicht trüben.
Natalia Sollte ich nicht lieber wieder gehen? Ich... mein Geschmack hat sich verändert.
Moritz (isst) Sie schmecken immer noch gleich.
Natalia Ich mag keine Grieben mehr.
Großvater Macht nichts. Schau! Da! Meerrettich! Frischer Meerrettich!
Natalia.... der Schmerz in der Nase..... mir kamen immer Tränen in die Augen.
Muni Ich musste immer Meerrettich essen. Dabei mag ich ihn gar nicht.
Großvater (zu Natalia) Ich habe dich sehr vermisst.
Natalia Vielleicht sollte ich wieder verschwinden, damit du mich vermissen kannst.
Großvater Iss, Natalia, iss!
Muni Sie mag keinen Meerrettich! Wie ich!
Großvater Gefällt es dir hier nicht?
Natalia Wir sind gerade angekommen. Wir schauen uns erst um.
Großvater Wozu? Alles ist so, wie es war.
Muni Ich durfte nichts berühren. Nur abstauben.
Moritz Den Holunderbusch auch?
Muni Den Holunderbusch?
Moritz Es ist derselbe Duft.
Großvater Ja! Es ist derselbe Duft!
Moritz Es lebe der Holunderbusch!

[...]

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Bild: Bohdan Holomíček
 
 
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