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Erste Erzählungen, 2009

«Erste Erzählungen» von Michael Zochow, bei Edition Howeg, Zürich,
ISBN 978-3-85736-258-3
herausgegeben von Daniel Corti
illustriert mit 22 Kratzzeichnungen von Joachim Boss
(mehr Bilder...)

 

Die zerstörte Liebe (1972)
publiziert im Tages Anzeiger 11.3.1972

Die Motten lebten zufrieden und ruhig in einem alten Sofa, das einem noch älteren Ehepaar gehörte. Nachdem die beiden Alten gleichzeitig gestorben waren, wurde das alte Sofa mit den Motten sehr billig einem jungen Maler verkauft. Die Mottenmutter ermahnte ihre Töchter: »Jetzt müsst ihr euch ordentlich waschen und reizend fliegen. Dann werdet ihr bemerkt, und der junge Maler wird euch vielleicht porträtieren. Jetzt habt ihr die Gelegenheit, berühmt zu werden.« Und die Mottenmädchen machten einen Knicks in der nikotinblauen Luft und sagten; »Ja, Mama. «

Sie wurden aber nicht bemerkt (obwohl sie wirklich ganz fabelhaft um den Kopf des Malers kreisten), weil der Maler eine nackte Frau malte und sich auf das Malen konzentrieren musste. Die Mottenmädchen flogen zu ihrer Mutter zurück und weinten, weil ihnen der Maler keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und das ist doch ungerecht Der Maler schenkte aber immer mehr und mehr Aufmerksamkeit der schönen nackten Frau, und er nahm sie in die Arme und legte sie vorsichtig auf das alte Sofa.

»Ach Mutti, der Maler ist jetzt auch nackt«, informierten die Mottenmädchen ihre Mutter, »jetzt erwartet er sicher, dass er von uns bemerkt wird, und dass wir ihn porträtieren, aber wir sind beleidigt, und wir werden ihn nicht porträtieren.«

Doch sie irrten sich, die lieben Mottenmädchen. Der Maler wollte nicht porträtiert werden, er wollte etwas ganz anderes. Das alte Sofa seufzte, als er sich darauf legte, weil zwei junge liegende Menschen viel schwerer sind als das alte sitzende Ehepaar, an das das Sofa gewöhnt war. Und dann kam die grösste Katastrophe, die die Mottenfamilie im alten Sofa erlebt hat. Es war etwas zwischen einem starken Erdbeben und einem bösen Sturm; es war die Begegnung des nackten Malers mit der schönen nackten Frau. Die star­ken Stösse haben sogar einige Motten getötet Die Mottenmutter befahl: »Das Sofa verlassen! Sofort!!«

Und als die Motten das Sofa verlies sen, rief die nackte Frau aus; »Hilfe, Motten!« Und sie verliess den Maler, weil die Liebe unmöglich sei, wenn man vor Mottenwolken den Partner nicht sieht .

»Wir wurden bemerkt«, jubelten die Mottenmädchen, und der Maler wurde sehr unglücklich und malte ein Bild »Zerstörte Liebe« mit vielen Motten . Die Mottenmutter sagte: »Seht ihr? Er hat uns doch porträtiert . « Und alle Motten waren sehr glücklich, nur der Maler war sehr traurig, aber alle kön nen doch nicht glücklich sein.

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Das Mückenheldchen (1972)
publiziert im Tages Anzeiger (1972)

Als das Mückchen noch klein war, schien ihm die Welt in Ordnung zu sein. Das Mückchen besuchte am Morgen die Schule, wo ihm eine liebe dicke Mücke die Kunst des Blutsaugens beibrachte, und den Nachmittag verbrachte es immer beim Grossvater, der sehr belesen war. »Wir Mücken sind eine berühmte Familie«, pflegte der Grossvater zu sagen, »man schreibt sogar Romane über uns. Die berühmteste Mücke hiess Dracula, und er wurde seiner grossen Verdienste wegen in den Adelsstand erhoben. Er war ein Meister des Blutsaugens, und deshalb ist er so gross geworden, dass man ihn mit einer Fledermaus zu verwechseln pflegte. Mit einer Fledermaus! Die Fledermäuse haben doch keine Ahnung, wie man das Blut richtig aussaugt. Nur die Mücken wissen es, nur die Mücken.«

Diese Rede hielt der Grossvater jeden Nachmittag, und das Mückchen nahm sich vor, auch ein Mückenheld zu werden, damit der Grossvater auf es stolz sein könne. Als das Mückchen schon fünf Tage alt war, sagte der Vater zu ihm: »Mein liebes Mückchen, du bist nun alt genug, um dich selbst zu ernähren. Du hast eine vorzügliche Erziehung genossen, und es wird sicher kein Problem für dich sein.« Die Mutter umarmte das Mückchen, und auf ihrem Gesicht erschienen zwei rote Tränen, weil sie vorher eine dicke Dame, auch eine Mutter, aber eine menschliche, ausgesogen hatte. Das Mückchen verabschiedete und bedankte sich und flog weg.

Während des Fluges stellte das Mückchen fest, dass es zwar die Technik des Aussaugens hervorragend beherrschte, dass es aber nicht wusste, wen man aussaugt. »Soll ich die englische Königin oder eine Rakete oder das braune Häufchen, das ein Hund auf der Strasse hinterlässt, oder den Hund selbst aussaugen?« dachte ziemlich verzweifelt das selbständig gewordene Mückchen, und dann erblickte es eine prächtige grosse Blutwurst. »Hurra«, jubelte das Mückchen, »eine Blutwurst ist sicher zum Aussaugen geeignet, sonst würde sie nicht Blutwurst heissen.«

Das Mückchen landete vorsichtig auf der Blutwurst, wiederholte schnell alle Sauglehrsätze, die es kannte, und dann begann es die Blutwurst auszusaugen. Die Blutwurst sagte zuerst »Au!«, aber dann wurde sie still. Was sollte sie auch sagen?

»Seltsam, seltsam«, dachte das Mückchen, »ich muss etwas falsch machen. Ich spüre immer noch kein Blut.« Das Mückchen wurde sehr unglücklich, weil es die Blutwurst nicht aussaugen konnte. Gerade als es im Begriff war, sich das Lehen zu nehmen, kam ein Mann und ass die Blutwurst auf. Das Mückchen wurde sehr böse: »Warum hast du mir meine Blutwurst weggefressen«, schrie es und stach den Mann ins Gesicht, und - o Wunder! - es fand eine Blutquelle. »Aha«, philosophierte das Mückchen, »eine Blutwurst kann man erst dann aussaugen, wenn sie aufgegessen ist.«

Seit dieser Zeit saugt das Mückchen ruhig und ohne grössere Probleme die in den Menschen verborgenen Blutwürste aus und wartet, bis es berühmt und in den Adelsstand erhoben wird.

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Bild: Bohdan Holomíček
 
 
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