FrÜhe erzÄhlungen ca. 1970 - 1974
Erzählungen
Frühe Erzählungen
(1971-1974)
Märchen (1972)
Kurzerzählungen
(1974-1975
)
 

Des Todes Tod

I.

Jemand erzählt, als ob es ein Märchen wäre: "Und plötzlich sah sich der Prinz vor einer grossen fremden Stadt. Die Stadt selbst konnte er nur ahnen; das, was er sah, war eine hohe Mauer. Auf der Mauer stand folgende Aufschrift: 'Betreten der Stadt strikte untersagt. Für jeden Ungehorsam Enthauptung als Strafe. ' Auf der Mauer waren tatsächlich einige abgehaue ne Köpfe zum Anschauen aufgesteckt. Der Prinz suchte eine Tür in der Mauer, er fand aber keine. Mühsam kletterte er hinauf, und kurz vor dem Ziel schaute er sich die Köpfe aus der Nähe an. Er sah sich in ihren erloschenen Augen, und ohnmächtig vor Entsetzen stürzte er hinunter, ohne die Stadt gesehen zu haben. Im Augenblick des Sturzes wusste er, dass es seine Stadt war, und er verspürte wiederum die Axt in den Händen.

II.

"Im Spiegel empfinde ich oft Schwindelgefühle, als ob ich aus dem Spiegel herausfallen müsste ", sagte mein Gegenüber.

"Woher kommen Sie? Wer sind Sie? Wohin gehen Sie?" fragte ich. "Nicht 'wer bin ich', sondern 'das bin ich' verursacht mein Schwindelgefühl", antwortete er, womit sich die Geleise der Erfahrung in Sümpfen des Neuen verloren.

"Die Gewissheit, nicht der Zweifel, das ist meine Angst. Das, was ist, das ist die Verzweiflung ", sagte mein Gegenüber. "Nur das, was nicht ist, ist ungewiss für mich, Herr, und das ist meine Hoffnung : die Unsichtbarkeit". "Widerspruch in sich selbst", sagte ich.

"Nein, eine Art Isomorphie, Herr. Die Unsichtbarkeit, meine Hoffnung, ist eigentlich ein Raum, nämlich der Abstand zwischen dem Vorgenommenen und dem nicht Erreichten. Aus der permanentem Zerstörung des Vorhandenen, die das Vorhandene unsichtbar macht, wächst meine Hoffnung heraus ." "Leben, um zu zerstören, zerstören, um zu leben. So?" fragte ich. "Ja, so", sagte mein Gegenüber, "na und? Es geht um mein Schwindelgefühl, Herr."

"Der Wunsch als Vater des Gedankens, warum nicht der Wunsch als Vater des Gefühls?" fragte ich. "Die Unsichtbarkeit als Hoffnung, die Gewissheit, das, was ist, als Verzweiflung, deshalb der Drang nach Zerstörung. Aus dem Spiegel herausfallen..., Sie sind, Herr! Sie sind! Und der Spiegel! Der Tod sich anschauend stirbt auch. Die totale Vernichtung verlangt die totale Existenz und stellt sich damit in den totalen Widerspruch zu sich selbst, der diese Existenz vernichtet. Sie müssen sein, um das Sein zu vernichten, und dabei vernichtet das Sein Sie. Deshalb Ihre Schwindelgefühle. Herr, Sie wollen ja herausfallen", sagte ich. fallend. "Was für Enthüllungen!" schrie mein Gegenüber. "Passen Sie auf, sonst liegen Sie auf dem Boden zerschmettert!"

"Aber wenn der Tod, wie gesagt, mein Leben ist?" fr agte ich. "Aber den Tod sehen heisst sterben", sagte er.

"Genug schon von diesen Göttern!" brüllte ich vor Schmerz. "Ich breche ihnen das Genick und soll noch aufpassen dabei! Dass ich nicht lache!" Wie im Spiegel: zerstörend zerstört werden. Wie seine Knochen raschelten! So ein Echo! Ein kostbarer Schwebezustand, sage ich Ihnen, mein Herr, sagte ich mir. Nur noch fallen. und fallen. und fallen. und .

Der Magen dreht sich mir um.

top

 

Am Ende wird geweint oder Der ewige Kavalier (1971) - Anfang

Die erste Begegnung

Die Sonne schickte ihre gelben und warmen Strahlen ins Gesicht der alleinstehenden Dame Margarete Bösch, die sich auf der Veranda des Ferienhauses "Freude" befand und mit den dezent geschminkten Augen blinzelte, weil sie das scharfe Licht der Sonne nicht ertragen konnte. Sie war nicht allein auf der Veranda; ein junges Ehepaar vor ihr bewunderte still die herrliche Aussicht auf das blaue und ruhige Meer. Die alleinstehende Dame Margarete Bösch kannte die jungen Leute nicht, und diese Unkenntnis schien ihr beinahe tragisch. Der weibliche Teil des Ehepaars drehte sich um, bemerkte die alleinstehende Dame, klopfte auf die Schulter des männlichen Teiles des Ehepaars, dieser drehte sich auch um, und das Ehepaar betrachtete gemeinsam die alleinstehende Dame Margarete Bösch und nicht mehr das blaue und ruhige Meer. [...]

top

 

Die Erkenntnis

Die Gefängniswache zählte einen Mann. Der Mann schnarchte, und ich sass im Zuschauerraum. Ich wusste genau, was für mich als Zuschauer das Schnarchen bedeuten sollte. Für den Zuschauer bedeutete es kein Schnarchen an sich, sondern den tiefen Schlaf der Wache. Die Bedeutung der Aussage war eine andere als die Aussage selbst. Weil ich im Zuschauerraum wusste, was für mich als Zuschauer das Schnarchen bedeuten sollte, bedeutete es für mich im Zuschauerraum nicht das, was es für mich als Zuschauer bedeutet hätte. Es bedeutet für mich, das ein anderer Mann, der einen Gefangenen aus dem Gefängnis befreien wollte, handeln durfte. Das Schnarchen der Wache war grünes Licht für ihn. Im Zuschauerraum sah ich den Befreier als einen Zuschauer. Ihm bedeutet das Schnarchen der Wache ihren tiefen Schlaf, mir bedeutete es die freie Bahn für ihn. Die Illusion, die von mir als Zuschauer verlangt wurde, verlangte ich vom Befreier. Die Bedeutung der Aussage war für mich im Zuschauerraum eine andere als es die Bedeutung derselben Aussage für mich als Zuschauer war. Der Befreier handelte nicht. Es entstand eine Theaterpanne und eine neue Bedeutung des Schnarchens. Es entstand keine neue Bedeutung des Schnarchens, sie war schon alt, sie wurde mir nur in diesem Augenblick bewusst. Das Schnarchen bedeutet, dass der andere Schauspieler handeln musste. Diese Bedeutung sah ich als Theaterbesucher ein. Diese Bedeutung war auch die einzige wahre Bedeutung des Schnarchens. Die Bedeutung der Aussage war für mich als bewussten Theaterbesucher eine andere als es die Bedeutung derselben Aussage für mich im Zuschauerraum war. Da stellte ich fest, dass ich, obwohl ich mich im Zuschauerraum als Zuschauer nicht verlor, mitspielte, ohne es zu wissen. Wenn ich nicht mitgespielt hätte, hätte ich das Schnarchen als ein Zeichen eines Schauspielers für einen anderen Schauspieler erkannt. Statt dessen gab ich mich mit der einfachen Erkenntnis des Nichtschlafens der Wache zufrieden. Ich vergass, dass auch der, der nicht schlief, keine Wache war. Der Befreier begann zu handeln. Er betrachtete den schlafenden Mann und zog langsam einen kleinen Revolver aus der Revolvertasche. In diesem Augenblick sprang die Wache auf und erschoss den Befreier. Wie selbstverständlich kam es mir vor! Nachher entsetzte ich mich über diese Selbstverständlichkeit. Es hätte doch eine Überraschung sein sollen. Ich konnte nicht wissen, dass das Schnarchen der Wache nicht echt war, sondern von ihr gespielt wurde. Das Schnarchen gewann zwar eine neue Bedeutung, es war eigentlich eine List, ich nahm jedoch diese neue Bedeutung, die grosse Überraschung nicht ernst. Ich nahm sie nicht ernst, weil ich mir der Tatsache bewusst war, dass auch diese neue Bedeutung, die List, keine wahre Bedeutung darstellte, obwohl gerade sie die Wahrheit hätte zeigen sollen. Durch die Panne, die mich an mein wirkliches Ich erinnerte und mir half es zu finden, war ich gehindert, das Ich aufzugeben und überrascht zu sein. Wenn die Panne nicht geschehen wäre, hätte ich überrascht sein müssen, weil sich die Bedeutung, die ich für richtig hielt, nachdem ich die Bedeutung, die ich als Zuschauer für richtig hätte halten sollen, als falsch gezeigt hätte. Das wäre allerdings bitter gewesen, die errungene Wahrheit sich in Unwahrheit verwandeln zu sehen. Durch die Theaterpanne erreichte ich unfreiwillig und unverdient das, was ich zu erreichen wünschte, und wovon ich irrtümlicherweise meinte, es erreicht zu haben.

top

 

Klagen des vergehenden Sommers (1974) - Anfang

"Sie schälen die Pfirsiche nicht, Andreas?" fragte nach dem Essen die Tochter des Hauses den Sommergast, der sich noch als einziger auf der kleinen Terrasse vor dem Haus befand, und aus ihrer Stimme konnte man sogar eine echte Verwunderung heraushören, wenn man geneigt war, die feinen Schattierungen im Ton des Gesprochenen zu unterscheiden.

"Wenn ich schälen sollte, würde ich damit so viel Zeit verlieren, dass mir dann jede Lust auf sie vergehen müsste", antwortete Andreas Langenschmid und beobachtete, wie sich die weisse seidene Bluse im leichten Wind an den kleinen, noch nicht vollständig entwickelten Brüsten des Mädchens bewegte. Das Mädchen gefiel ihm recht gut, und jetzt, nach dem Essen, in diesem lähmenden Augenblick der Zufriedenheit, in welchem sich so leicht das Sattgefühl mit dem Bedürfnis nach einem kurzen, leichten Schläfchen einstellt, fand er sie sogar hübsch.

"Wie schön ist es hier", sagte er, indem er die Lippenmuskeln krampfhaft zusammenzog, um ein schwaches Gähnen der Höflichkeit wegen zu unterdrücken und zwei Tränen der Müdigkeit traten ihm in die Augen.

"Finden Sie?" fragte das Mädchen, "langweilen Sie sich nicht?" und ohne die Antwort abzuwarten sagte sie rasch. "Ich langweile mich schrecklich. [...]

top

 

 

 
Des Todes Tod Seite 1
 
Des Todes Tod Seite 2
 
Des Todes Tod Seite 3
 
© Copyright 2005 by Daniel Corti | Design by unterwww.ch